PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
weiß
es nicht, denn sein Geist ist edel - niemals wird er um deine Gunst
buhlen. Beschenke und ehre ihn, denn er ist weise. Höre auf
seine Worte und handle danach.
Herrscher - ich sehe dich.
Du liegst auf der Erde, um mein Wort zu hören. Ich sage dir,
daß Dinge geschehen werden, die wunderbar sind. Ich bin der
Geist des Stammes, und deine Boten werden meine Rede den anderen
Stämmen mitteilen; sage es den schnellsten Läufern.
Und wenn alle Fürsten zusammentreten, wird ein großes
Wunder geschehen. Ein zweiter Mond wird am Himmel sein, und seine
Farbe ist die brennende Bronze. Und ein Herrscher wird kommen und
euch die Hand schütteln, und euch ein neues Land zeigen. Und
dies wird geschehen, weil ich es will und weil der Ratgeber es
prophezeit.
Geh - Herrscher und tue, was ich gesprochen habe.“
Die neun Menschen blieben erstarrt und wie bewußtlos liegen,
als die Stimme aus dem Totempfahl geendet hatte. Zufrieden kletterte
Anahay von dem Baum und ging langsam in
sein Haus zurück. Dann nahm er das kleine Kanu und ruderte
auf den See hinaus, wo er einige Fische speerte. An eine Liane
gebunden, brachte er sie an Land und reichte sie dem Mädchen.
„Das ist für uns, Sklavin. Du wirst mit deinem Herrn
zusammen essen. Du weißt, was das bedeutet?“
„Ich weiß es, Herr.“
Ereignislos vergingen die Stunden. Drei Männer bestimmten in
bedeutungsvollen Anteilen das kommende Geschehen. Es waren der
Häuptling, der neben seiner Lieblingssklavin auf einer Matte saß
und auf die Figuren des Würfels starrte, die sich zu immer neuen
Formationen gliederten und andere Geschichten erzählten - aber
der Schluß eines jeden Märchens war mit den anderen
identisch. Der Schamane... er saß in seiner Hütte, die mit
seltsamem Zeug vollgestopft war. Klauen der verschiedenen Tiere,
bunte Schnüre, ein Bogenholz an einem Bronzegong und vieles
andere.
Haß auf den fremden Eindringling überkam ihn. Er, der
Schamane, war bisher der ungekrönte Herrscher des Dorfes
gewesen; nichts geschah ohne seinen Rat. Jetzt hatte ihn der
Stammesgeist entthront - noch nie war die Stimme aus dem Totempfahl
erklungen. Tod; das war die einzige Möglichkeit. Der Wanderer
mußte gespeert werden.
Morgen war genügend Gelegenheit dazu.
Er würde einem jungen, ehrgeizigen Krieger mit den Augen
lange ansehen, und dieser Mann würde den Ratgeber speeren, nicht
er, der Schamane.
Die Figur im Mittelpunkt aber...
Die Bäume schienen sich enger aneinanderzudrücken. Etwas
Zwingendes lag in der Luft. Anahay lag ausgestreckt auf seiner Matte
und lauschte in die Stille hinein; aus unendlicher Ferne drang der
Ton eines Gewitters herüber. Die Blätter raschelten; die
Luft kühlte sich ab. Verlodernde Holzstücke lagen auf dem
Lehm und zwischen den Steinen des Herdfeuers.
Ein seltsamer Laut schwebte über den See - ein fahler Klang
in der Nacht der Baumsteppe am Seeufer.
Dschungelnacht...
Noch nie in seinem Leben hatte Anahay die Wirkung der
unmittelbaren Natur so gefühlt. Sie verwandelte die Menschen.
Aus Weisen wurden Narren und aus Menschen Tiere. Die Dunkelheit und
die von unsichtbarem Leben erfüllte Stille schlichen um die
Hütte und packten die Menschen. „Herr?“ „Ja?“
fragte Anahay, ohne sich zu rühren.
„Es ist so still... die Geister kommen. Soll ich singen?“
„Wenn du willst?“
„Für dich, Herr.“ Das Mädchen nahm von einem
der Balken ein Instrument mit drei Saiten und einem schmalen
Griffbrett. Die Sakaizither gab einige feine Töne von sich; dann
hörte Anahay die helle, fast silberne Stimme des Mädchens.
Sie sang die alten Lieder: Krieg, sterbende Männer und weinende
Frauen, Lieder vom See und von der Liebe. Dunkel fühlte Anahay,
daß hier eigentlich seine Heimat war, inmitten dieser Menschen
mit dem Verstand von siebzehnjährigen Kindern und der Moral von
Buschmännern. Der Gedanke verschwand, wie er gekommen war. Er
war ein Wanderer. Nicht Jahre, sondern Tage blieb er hier. Bis zur
Nacht des violetten Mondes.
„Mädchen?“ sagte er in die Stille. Das Feuer war
ganz erloschen. Ein Tier huschte einen Stamm hinauf, raschelte in den
Akariwedeln und wurde dann still; vermutlich schlief es ein. „Ich
bin ein Wanderer, und meine Tage hier sind gezählt...“
„Jeden Tag scheint die Sonne, und die Nacht stirbt jeden
Morgen. Was sind Tage? Das Wasser rinnt und bleibt doch immer das
gleiche.“
„So ist es. Und wir trinken, wenn wir durstig sind.“
Die letzten Töne der Sakai verklangen. Das Mädchen
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