PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
zu wiederholten Malen angesprochen.
„Du kamst in die Stadt, und die Unruhe kam mit dir. Warum?“
Würdevoll entgegnete Necca: „Ich kam, weil die Unruhe
und die Angst kamen.“
Der andere fragte: „Woher kommst du?“
„Ich komme aus einem Land, in dem sich dein Freund befindet.
Er sah dein Elend kommen und schickte mich, dir zu helfen.“
„Mein Freund... ich verstehe nicht.“ „Nicht nur
dein Freund. Auch der Freund eines jeden aus Madira City und von
Whaiang Madira.“ Erstaunt musterte ihn der andere.
„Wie kann jemand mein Freund sein, den ich nicht kenne,
Fremdling?“
Mit einer ausholenden Gebärde wies Necca auf die weißen
Mauern und Plätze der Hügelstadt. Er sagte feierlich:
„Gerade, weil du ihn nicht kennst, ist er dein Freund. Würde
er dich und die anderen Sklaven von Kyberna kennen, würde er
zögern, dir zu helfen.“
„Wir sind keine Sklaven von Kyberna. Kyberna ist das
Höchste, das Vollkommene.“
„Wie kann etwas, das von Menschenhand gebaut wurde,
vollkommen sein? Eine Maschine ist unvollkommen. Menschen, die sich
nach ihren Weisungen richten, sind es auch. Sie sind Sklaven und
Heloten.“
Fassungslos starrte ihn der andere an. Er zweifelte an allem; an
sich, an dem Fremdling ihm gegenüber und an der Richtigkeit des
Lebens.
„Was sagte Kyberna, als sie den Traum als Wahrheit
bezeichnete?“
Ruhig antwortete Necca und deutete auf die schwarzen Riesenlettern
des Spruchbandes: „Die Maschine ist klug, um zu wissen, daß
der Mensch mit seinen Ängsten und Hoffnungen lebt -hätte er
sie nicht, würde er nicht leben. Sie spürte den Traum, den
wir alle hatten, und sie warnte davor, die Erkenntnisse des Morgens
zu vergessen.“
„Das glaube ich nicht.“
Necca sagte lächelnd: „Du glaubst doch, daß die
rote Sonne aufgeht und niedergeht, obwohl du die Gesetze ihres
Handelns nicht kennst. Du glaubst daran, daß Kyberna alles
berechnen kann, alles sagen kann und sogar die Menge des Essens und
des Weines bestimmt. Warum glaubst du nicht an die Wahrheit, die
Kyberna geschrieben hat?“
„Ich glaube daran, aber ich kann an die Verbindung zwischen
Traum und Losung nicht glauben.“
„Du zweifelst also an Kyberna!“
Necca lachte.
„Kyberna“, sagte er ernst und würdevoll, „ist
eine sehr alte Maschine. Sie arbeitet seit zweihundert Jahren nur für
euch. Sie kann vieles, aber nicht alles. Und jetzt ist sie müde
geworden und schwach. Ihre Millionen Elemente sind abgenutzt und
unbrauchbar - was tut ein Mensch oder ein Tier, wenn diese Zeichen
auftreten?“
Verwundert und erschreckend in einer plötzlichen Erkenntnis
sagte der andere mit einem scheuen Blick auf die Schrift über
der Stadt: „Ein Mensch legt sich hin und wird sterben.“
„So ist es“, sagte Necca. „Warum sollte die
Maschine nicht sterben müssen?“
„Das wäre furchtbar - unser Lebensgrund wäre
erschüttert.“
„Auch die Kinder trauern um ihren toten Vater“, war
die Antwort.
„Du meinst... ?“ fragte der Mann entgeistert.
„Ich meine nicht“, sagte Necca, „denn ich weiß
es. Ich weiß alles, denn ich bin überaus klug und alt. Ich
sage dir, daß Kyberna in drei Tagen sterben wird.“
„Woher weißt du das, Fremder?“
„Mein Freund ist mächtiger als Kyberna; er ist der
Mann, der Kyberna erfunden hat zu ihrer Zeit. Er weiß, wie
lange sie lebt, und er sandte mich, um euch auf den Tod
vorzubereiten. Wenn kein Wunder erfolgt - und Wunder sind selten -
dann werdet ihr mit Kyberna sterben müssen.“
„Das ist nicht wahr!“
„Doch; ich werde es euch allen beweisen. Gehe jetzt und
erzähle dieses Wissen allen Stadtbewohnern. Ich werde ihnen
morgen in der großen Stadthalle Rede und Antwort stehen. Sie
sollen alle kommen. Sie werden kommen, denn sie haben Angst wie du.“
Necca ließ den Bürger stehen und ging weiter. Im
Schatten einer halbhohen Mauer ließ er sich nieder, lehnte sich
an und senkte den Kopf auf die Brust. Einige weiße Vögel
kamen herbei und setzten sich auf seine Arme. Niemand von den
Vorübergehenden wagte es, die Ruhe des Philosophen zu stören.
Der Abend des fünften Tages saß Necca in der Halle.
Der Ausdruck Halle war nicht ganz gerecht. Es war ein
Amphitheater, dessen Ränge dreiviertelkreisförmig
aufstiegen und in ihrer Mitte eine runde Bühne bildeten; dort
saßen die Meister des Brettspiels und die klügsten Männer
von Madira City. Sie warteten auf Necca, der seinen Auftritt
wirkungsvoll gestaltete. Er schritt majestätisch die breite
Treppe
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