PR TB 014 Die Nacht Des Violetten Mondes
Necca zu, hob
grüßend die Hand und sagte voller Ehrfurcht: „Ich
kenne dich nicht, Fremdling. Woher kommst du?“
Lächelnd antwortete Necca: „Müßte nicht ich
dich fragen, woher du kommst? Ich weiß, woher ich komme und
woher du kommst - aber du weißt weder, woher du kommst, noch
woher ich komme. Denke darüber nach und suche mich wieder.“
Er ließ den Weißhaarigen stehen und ging. Der andere
versuchte, die fremden Gedanken zu erfassen, zu analysieren und eine
Antwort darauf zu finden, aber als er fragen wollte, war Necca schon
wieder an einer anderen Stelle. Dort stellte er einem anderen Mann
eine Frage.
„Weißt du“, fragte er mit dem Lächeln eines
Auguren, „was geschehen wird, wenn die Weisen dieser Stadt
einsehen, daß sie nicht weise sind?“ „Ich verstehe
dich nicht, Fremder.“ Müde breitete Necca seine Arme aus.
Dann wies er auf ein Kind, das neben einem großen Hund
einherlief und das Tier an einem goldenen Halsband gefaßt
hielt. „So frage dieses Kind. Es wird mehr aus einer anderen
Welt wissen, weil es dieser Welt noch nicht so fern ist wie du,
älterer Mann.“ Bis zum späten Abend hatte Necca
mindestens zweihundert Personen angesprochen, ihnen merkwürdige
und schwer zu beantwortende Fragen gestellt und ihre Fragen auf
merkwürdige Weise beantwortet. Er hatte in einige hundert Hirne
Zweifel und Verwirrung gesät, und diese Saat mußte jetzt
keimen. Dazu waren die Nacht und der folgende nächste Tag da -
besonders, da in dieser Nacht seltsame Dinge geschehen würden.
Eine stagnierende, erschlaffte Kultur wird nur durch zwei Dinge
wieder aufgefrischt: Durch ein totales Chaos, das nicht in Terror
ausartete und durch die Gedanken und Wünsche nach Klarheit.
Beides zu bringen, war Necca Etain gesandt worden.
Aber während er wieder auf einer Mauer schlief...
Jedes System hat genügend Lücken, durch die der Feind
eindringen kann. Tief im Unterbewußtsein der Stadtbewohner
schlummerte die Furcht, nicht mehr länger dieses angenehme Leben
führen zu können. Noch arbeitete die Maschine, noch blühten
die Äcker der Bauern, und immer noch war nichts geschehen, was
die Ruhe gestört hätte. Fern und schwach waren die
Erinnerungen an eine Zeit, die von harter Aufbauarbeit erfüllt
war und von Kontakten, von Menschen aus anderen Welten und von
Schiffen, die kamen und gingen. Vor zweihundert Jahren waren die
letzten Verbindungen zu Terra abgerissen, und seit zweihundert Jahren
warteten die Menschen auf ein terranisches Botenschiff... aber sie
wußten es nicht. Nur ihr Unterbewußtsein trug diese
Gedanken.
Das Hirn ist eine ungeheuer komplexe Einheit. So, wie meist das
vergessene wird, was
unangenehm ist, kann eben dieses Unangenehme wieder zu einem Teil
der bewußten Gedanken werden, wenn genügend Anstöße
erfolgten.
Anstöße...
Es war Mitternacht. Über der Stadt ruhte eine geheimnisvolle
Traurigkeit. Wie eine schwere, tiefhängende Wolke schwebte sie
nieder und legte sich auf die Schläfer. Und aus dem Licht der
Sterne kondensierte sich ein Punkt, ungewohnt und von schrecklicher
Färbung. Er war blau, violett, und er näherte sich stetig.
Dieser Punkt war ein Alpdruck; er hockte sich auf die Lungen und
drückte schwer. Das violette Licht schien die endlose Einöde
des Traumes zu durchdringen, sie zu zermalmen. Es waren keine realen
Gedanken, eher abstrakte Verkörperungen von Schmerz und Verlust,
ein Drama aus reiner Schwermut.
In jener Nacht, der Nacht des violetten Alptraumes, spürten
die Stadtbewohner die Furcht, alles zu verlieren - all das, wovon das
Leben und das Licht die am leichtesten zu verschmerzenden Verluste
waren. Nach dieser Nacht würde alles verändert sein.
Die Augenblicke der Furcht wurden packender, und ein einziger
Ausweg bot sich an. Der einzige logische Ausweg: violettes Licht.
Licht des violetten Mondes. Die Krallen des Schreckens gingen tiefer,
und auch die Gedanken an Rettung und Hilfe brannten sich ein.
Im Schiff schaltete Scott Rhettnys den Hypnoprojektor ab.
Die BRASILIA stieg wieder in die Nacht und ging auf ihre
Warteposition zurück. Lichtzeichen, die aus einem Bezirk der
Stadt senkrecht zum Himmel gestrahlt wurden und aus einer
Taschenlampe stammten, bedeuteten eine Botschaft; Necca hatte alles
erledigen können. Fünf Stunden später brach der Morgen
an und weckte Necca.
Kyberna gab die Losung des Tages: „Träume sind
furchtbare Wahrheit.“
*
Der vierte Tag...
Als Necca wie ein unbeteiligter Bürger durch die Stadt
streifte, wurde er
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