PR TB 144 Die Seelenlosen
Griff wurde fester.
„Wir schicken ihn durch den Kessel auf die andere Seite!"
hörte ich ihn sagen. Seine Worte galten Kerstin.
Ich riß mich mit einer verzweifelten Kraftanstrengung los
und zwängte mich an ihm vorbei in den Korridor.
„Bleiben Sie stehen, Sie Narr!" schrie er, eher
erstaunt als wütend.
Ich rannte weiter, gelangte in den Vorraum, wo mich ein paar
Mitglieder der Rvomer-Familie überrascht ansahen. Ohne mein
Tempo zu verlangsamen, stürmte ich aus der Kuppel zu meinem
Fahrzeug. Ich warf mich auf den Sitz und startete.
In diesem Augenblick wurde mir die ganze Sinnlosigkeit meiner
Flucht klar. Wohin hätte ich mich wenden können? Rvomer
brauchte nur meine Familie zu benachrichtigen. Er wußte, daß
ich keine andere Wahl hatte, als früher oder später dorthin
zurückzukehren.
„Fahren Sie nicht zu Ihrem Haus zurück!" flüsterte
eine wohlbekannte Stimme hinter mir.
Ich fuhr herum und sah Simon, der sich hinter dem Sitz
aufrichtete. Dort hatte er sich die ganze Zeit über verborgen
gehalten.
Er lächelte.
„Ich dachte mir schon, daß es Schwierigkeiten geben
würde", erklärte er. „Deshalb habe ich mich in
Ihrem Fahrzeug versteckt. Das schien mir sicherer als das Versteck in
Ihrem Stall."
„Rvomer behauptet, daß Sie ein Roboter sind, ein
unnatürliches Ding, das aus dem Kessel gekommen ist!"
Simon ging nicht darauf ein.
„Fahren Sie zu einem sicheren Platz irgendwo am Wall!"
befahl er.
Erneut hatte ich das Gefühl, daß seine Stimme innere
Zwänge in mir auslöste. Ich brachte nicht die Kraft auf,
dem Fremden zu widersprechen.
Als ich auf die Straße hinausfuhr, sagte ich:
„Rvomer sprach davon, daß er mich durch den Kessel auf
die andere Seite schicken müßte. Was bedeutet das, Simon?"
„In gewisser Weise repräsentieren die Rvomers die
Priester", entgegnete Simon rätselhaft. „Man könnte
sie auch Gralshüter nennen. In jedem Fall wissen sie mehr als
alle anderen Familien, ohne die ganze Wahrheit zu kennen."
Er deutete auf die Straße.
„Biegen Sie irgendwo ab", ordnete er an. „Ich
glaube zwar nicht, daß Rvomer Sie verfolgen läßt,
aber wir müssen auch diese Möglichkeit einkalkulieren."
„Was ... was werden wir jetzt tun?" fragte ich.
„Wir versuchen, den Wall zu überwinden und auf die
andere Seite zu gelangen."
*
Ich hielt unmittelbar am Ufer des kleinen Flusses, der auf den
Wall zuströmte und darin verschwand. Niemand hatte sich jemals
Gedanken darüber gemacht, was mit dem Fluß auf der anderen
Seite des Walls passierte. Verlor er sich in der Leere? Hörte er
einfach auf zu existieren?
Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich ein Wald bis zu
einer Anhöhe hinauf, wo ein paar Familien ihre Häuser
errichtet hatten. Die schmale Straße, auf der wir hergekommen
waren, führte durch Gestrüpp und Büsche, ein sicheres
Zeichen, daß sie kaum benutzt wurde.
Der Wall sah aus wie eine glitzernde Wand aus Nebel. Er verlor
sich hoch über uns im Nichts. Die Grenze von Valjuhn war
natürlich, sie hatte schon immer bestanden und würde auch
alle Familien überstehen.
„Ich weiß, daß Sie nicht schwimmen können",
sagte Simon zu mir.
„Aber wir müssen es gemeinsam versuchen."
Wir stiegen aus dem Fahrzeug.
„Dieser Wall ist eine Energiemauer", erklärte
Simon. „Das sagt Ihnen nicht viel. Wir haben vielleicht eine
Chance, unter ihr hindurchzutauchen und auf die andere Seite zu
gelangen."
Ich war viel zu verwirrt, um irgendwelche Einwände zu
erheben. Zuviel war auf mich eingestürmt.
Simon entfernte sich vom Wagen und watete in den Fluß. Er
winkte mir zu, daß ich ihm folgen sollte.
„Wir werden auf dieser Seite einen Tauchversuch machen,
damit ich sehen kann, ob Sie es schaffen."
Er glitt in das Wasser hinein und zeigte mir, wie man schwamm und
tauchte. Ich begriff es schnell. Simon war zufrieden. Ich
beobachtete, daß er immer wieder in Richtung zur Straße
blickte. Er rechnete offenbar mit einer Verfolgung. Ich war noch
immer wie betäubt, anders ließ sich die Bereitwilligkeit,
mit der ich alles mitmachte, nicht erklären.
„Sind Sie bereit?" fragte er schließlich.
„Aber ... dort drüben ist die Leere", erhob ich
einen schwachen Einwand.
„Unsinn!" widersprach er heftig. „Die Welt ist
jenseits des Walls nicht zu Ende, sie beginnt dort erst."
Er tauchte zuerst. Ich schwamm hinter ihm her. Im Wasser war
nichts vom Wall zu sehen. Unwillkürlich fragte ich mich, warum
niemals jemand vor uns diesen Weg gegangen war. Ich verlor
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