PR TB 149 Die Grosse Flut
alle sind meine Sklaven, die nur
aus meiner Gnade leben!“
Die Krieger stimmten ein gewaltiges Geschrei der Erleichterung und
Begeisterung an. Dumpfe Trauer und Verzweiflung bemächtigten
sich derjenigen, die diesen Schrei gehört hatten.
Am Abend, als die Vorbereitungen für die Siegesfeiern fast
ihren Höhepunkt erreicht hatten, brachte man den geschälten
Stamm einer hohen Palme auf den Platz der Stadt. Ein zwei Ellen
tiefes Loch wurde gegraben. Enlil, der zugesehen hatte, wie sie vier
seiner besten Schülerinnen und Gefolgsleute auf einem der
breitesten Dämme begraben hatten - dazu dreiunddreißig der
Soldaten - stand bleich und schweigend daneben, als man den Körper
Imohags mit Lederriemen an den oberen Teil des Pfahles band. Das
geronnene Blut wurde mit einigen Eimern Wasser flüchtig
abgewaschen. Dann brachten die Soldaten zwei Stangen, deren obere
Enden gegabelt waren.
Schweigend und hohläugig sahen die Kinder, die Verwundeten,
die Frauen und die weißbärtigen Männer zu. Man hatte
so viele Bewohner Susas zusammengetrieben, wie möglich war. Eine
Schar junger Mädchen, die zu ahnen begann, was die Nacht für
sie bedeuten würde, fingen die Soldaten in den Weizenfeldern
wieder ein und schleppten sie zurück. Als man die Handgelenke
Imohags zusammenband und hinter dem Palmenstamm zerrte, stutzte
Enlil.
„Haltet ein!“
Seine Stimme ließ die Soldaten einhalten, als habe man ihnen
einen Peitschenhieb versetzt. Verwundert wandten sich diejenigen, die
eben noch den Leichnam bespuckt hatten, nach Enlil um.
Der Gott kam ungewöhnlich schnell näher. Wer scharfe
Augen hatte, konnte sehen, dass seine Finger wie im Fieber zitterten.
Sein Gesicht glich einem erstarrten Klumpen Lehm. Er blieb neben der
Leiche stehen und betrachtete sie schweigend. Als seine Augen das
entspannte Gesicht trafen, das jetzt eine Art friedliches, fast
ironisches Lächeln zeigte, zuckte Enlil zusammen. Noch immer
sagte er kein einziges Wort. Seine Zähne bohrten sich in die
schmale Unterlippe. Lange Zeit stand er so da, starrte das Gesicht
an, als ob er einen verschollenen Bruder wieder erkennen würde.
Dann drehte er sich schnell um, blickte über die Dächer
hinweg in das flammende Rot und Purpur der Abenddämmerung.
Schließlich knurrte er, wie es schien voller Hass:
„Zieht ihn hoch! Schnell!“
Sie alle wunderten sich, vergaßen es aber, als die Soldaten
mit erbeuteten Weinschläuchen daherkamen. Mit Hilfe der
gegabelten Stangen richtete man in der Mitte des Platzes den Pfahl
auf. Zwei Mannslängen über dem Boden hing Imohag, der tote
Stadtkönig Susas. Die Soldaten aus Ur machten sich einen Scherz
daraus, mit Pfeilen nach ihm zu schießen.
Zur gleichen Zeit erschien, von den letzten Strahlen der Sonne
funkelnd und strahlend beleuchtet, ein riesiger Vogel am Himmel. Ein
Zeichen eines anderen Gottes? Er kreiste mit ausgebreiteten Schwingen
tief über dem Platz, immer wieder, in weiteren und engeren
Spiralen. Das Tier, ein gewaltiger Silberreiher, schien einen
sechsten Sinn zu haben, denn jedes Geschoß der unfehlbaren
Bogenschützen Urs ging vorbei, weil der Vogel blitzschnell
auswich.
Niemand wusste, was Enlil dachte.
Er ging allein rund um die Aufschüttung, die die Stadt trug.
Sein Inneres hallte von unhörbaren Flüchen. Er war sicher,
dass der Mann, den er beinahe selbst getötet hatte, alles andere
war als ein bäuerlicher Fürst einer langsam und mühevoll
wachsenden Siedlung zwischen Strom und Gebirg e .
Dies konnte nur eine Bedeutung haben.
6.
Ich war wohlvorbereitet, aber trotzdem schauerte ich, als ich den
großen Damm verließ. Ich sah überall die Spuren der
Kämpfe und der heißen, erbarmungslosen Tage danach.
Inzwischen hatte ich Übung, solche Spuren zu erkennen.
Das Stadttor stand weit offen. Auf den Feldern arbeiteten Kinder,
Frauen und Greise. Schon nach zwanzig Schritten stieß ich auf
eine Rotte der Soldaten, die Enlil als Besatzung hier gelassen hatte.
Ich war bis zur Unkenntlichkeit maskiert, und hoch über mir
schwebte als zusätzlicher Schutz der Silberreiher. Mein Rücken
war gekrümmt, ich trug die Runzeln des Alters im Gesicht und am
Körper Gewänder, die ich von einem Hirten in Ninive
bekommen hatte. Über meiner Schulter war eine alte, abgewetzte
Hacke. Die Soldaten, insgesamt sechs, warfen mir misstrauische Blicke
zu, aber sie ließen mich passieren. Zu deutlich waren die
Spuren von Erde, Schlamm und Feldarbeit zu erkennen. Ich kannte die
Bilder, die der Vogel geliefert hatte, aber die
Weitere Kostenlose Bücher