PR TB 156 Der Löwe Von Akkad
Tage und Nächte später hatte sich die Umgebung
grandios verändert. Wir befanden uns im Bergland, zwanzig
Doppelstunden ungefähr in reiner Luftlinie vom Strand des Oberen
Meeres entfernt. Hier wartete mein Pferd, das die Soldaten Sharrukins
mitgenommen hatten. Hier kehrte Encheduana um - mit dem Wagen. Die
Krieger würden sie nach Mari eskortieren, von wo aus sie ein
Ruderschiff benutzen wollte.
„Ishtar wird dich in Sicherheit reisen lassen", sagte
ich leise und hielt mich am Rand des Wagenkorbes fest. Wir hatten
letzte Nacht Abschied voneinander genommen. „Du als eine ihrer
zukünftigen Priesterinnen ... gedulde dich. Die Zeit wird
schnell vergehen."
Sie sah mich mit brennenden Augen an. Ihr Gesicht war bleich;
Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirn. Ich hatte mich
langsam verändert, ein Wunder, daß mich die Soldaten noch
erkannten. Meine Maske war vollkommen. Dunkelbraun gebrannte Haut mit
künstlichen Linien der Tätowierung, kurzgeschorenes, weißes
Haar, ein dicker, weißer Oberlippenbart, ein breites Lederband
mit magischen Zeichen um die Stirn.
Encheduana lächelte.
„Drei, vier Monde. Mehr als hundert Tage - ich habe dich
kaum getroffen, Attalan! Du hast mir geschworen, den Gefahren
auszuweichen! Du weißt, daß ich eifersüchtig bin wie
eine Löwin!"
„Wir werden das Hauptfest des Regenendes zusammen feiern, in
der lachenden Menge zu Akkade! Geh und hilf Rhai-ghur beim Bau des
Tempels. Ich komme wieder. Ich werde dich mit keiner der Barbarinnen
betrügen!"
„Ich vertraue dir noch mehr als Sharrukin!" sagte sie,
küßte mich auf den Mund und schwang die Peitsche. Die drei
Hengste stiegen in die Höhe, schrien mißtönend auf
und stemmten sich dann im Angaloppieren gegen das Joch. Der Wagen
wurde förmlich vorwärts gerissen. Ich hielt die Zügel
meines gescheckten Hengstes, der lange nicht geritten worden war und
vor Kraft und Ungeduld förmlich vibrierte, und dann grüßte
ich die Soldaten des letzten Stafettenpunkts. Ab jetzt war ich
allein. Spion für einen Androiden! Der Einsame der Zeit in der
Maske eines verlorenen Reiters aus einer fremden Welt. Nichts deutete
darauf hin, daß meine augenblickliche Heimat das Reich Akkad
war. Ich schwang mich in den Sattel und ritt nach Nordosten. Vor mir
erhoben sich die Berge und die Pässe. Die Hufe des Hengstes
klapperten auf der Karawanenstraße, die von jedem
verantwortungsvollen Karawanenführer gemieden wurde wie die
Schwarze Pest.
Kar-shattar dachte flüchtig an diesen großen,
weißhaarigen Mann, der gezwungen war, jedem menschlichen Wesen
weit auszuweichen. Dann schob sie ihr langes Haar aus der Stirn und
beobachtete Sharrukins Gesicht im sterbenden Schein des
Holzkohlenfeuers. Sie fühlte sich dem schlafenden König
unheimlich nahe; näher als je zuvor an den Tagen und in den
Nächten der wortlosen, gierigen Leidenschaft. Kar-shattars
Gedanken glitten suchend,
tastend umher. In Sharrukins Gesicht vermochte sie die Spuren der
Vereinsamung zu erkennen. Seine Lippen waren zusammengepreßt,
er atmete wie ein Tier, nicht wie ein Mensch. In Wirklichkeit war er
kein Mann, sondern ein Feigling, der diesen Makel durch pausenlosen
Einsatz bis zum Punkt äußerster Härte und Grausamkeit
gegen sich und andere zu verändern versuchte.
Da lag er, ausgestreckt und eingetaucht in sein eigens, finsteres
Chaos. Ein Rasender, der vielleicht ein einzigesmal über sich
selbst hinauswachsen würde. Unersättlich in seinen
Ansprüchen: Macht, Leidenschaft, Bewunderung und Gehorsam
verlangte er in einem Maß, das nicht mehr menschlich war.
Kar-shattar kannte den Grund: er war nicht menschlich. Und sie selbst
war menschlich, und deswegen würde sie an ihm scheitern.
Die Kraft, sich von ihm zu lösen, hatte sie längst
verloren.
Da lag er, die Marionette von ES, nichts anderes als ein Werkzeug,
das einen Hauch von Kultur, Staatsgedanken und Zivilisation über
diese Bauern, Hirten und Handwerker bringen sollte. Und sie,
Kar-shattar, war seine Marionette. Er war ein Nihilist, der sich
selbst zerstören würde. Wie lange konnte er noch so
weiterleben? Zehn Jahre? Fünfzehn Jahre? Nicht mehr länger,
dann war er ausgebrannt. Er litt unter seinem eigenen verzehrenden
Schmerz.
Fast wider Willen streckte Kar-shattar die Finger aus und berührte
ihn an der Kehle. Unter der Haut pochte der Puls. Sie fühlte,
wie ihr nackter Körper erschauerte. Ein tiefes, fast
elektrisierendes Gefühl der Blutsverwandtschaft ergriff
Kar-shattar. Auf eine unbekannte Weise war sie
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