PR TB 229 Im Tödlichen Schatten
Vielleicht
gelang es mir, Charis etwas von ihrer Furcht zu nehmen. Es war wohl
fair, der Frau, die ich liebte, die Wahrheit zu sagen. Wenigstens die
Wahrheit dieses Moments; morgen würde es, vielleicht, eine
andere Wahrheit sein.
»Wenn wir erwachen«, fuhr ich, etwas bedächtiger,
fort, »erkennen wir uns. Wir wissen, wer wir sind. Ich selbst
habe stets unzusammenhängende Fetzen aller möglichen
Erinnerungen. Du wahrscheinlich auch. Die Rolle Ricos kenne ich noch
nicht ganz; vermutlich verfügt er über mehr. nein, über
andere Erinnerungen. Ich selbst weiß, daß ich fast
zehnmal an verschiedenen Orten war, immer wieder versuchte, von
dieser Welt zurückzukommen. aber das ist eine andere Geschichte.
Ich erzähle sie dir auf der nächsten Reise. Ich bin sicher,
daß wir wieder dorthin zurückgebracht werden, wo wir uns
vor etlichen Monden scheinbar zum erstenmal gesehen haben.«
»Wo wir schlafen, bis ES uns wieder braucht«, meinte
Charis voll resignierender Einsicht. Ich nickte.
»ES braucht uns, wenn diese Welt bedroht wird. Wir dürfen
uns der Sonne nur dann erfreuen, wenn wir für die Sicherheit der
Welt kämpfen und arbeiten.«
»Immerhin pflegt ES seine Werkzeuge«, wandte sie ein
und zeigte auf den Fluß. »Wenn die Sonne sinkt, lassen
wir uns mit dem Boot zum Dorf treiben.«
»Genau das ist es«, lachte ich ironisch, »was ES
gern sieht. Daß wir uns treiben lassen, gedanklich, meine ich.«
Wieder einmal mußte ich erkennen, daß wir machtlos
waren. Die Möglichkeiten, eigenständig zu handeln, waren
groß - aber ES führte uns dennoch an langer Kette. Für
Ptah-Sokar und Charis bedeutete dies aber, daß ihr Leben sich
über einen Zeitraum von Jahrhunderten erstreckte. Bisher hatten
sie die Ausschnitte aus der Geschichte des Barbarenplaneten
bewundernswert gut überstanden.
ZUR SELBEN ZEIT: Am Fuß der breiten Treppe, mitten im
Innenhof, standen elf dickbauchige Bronzekessel. Sie waren mit
glühenden Holzkohlen gefüllt, besaßen Löcher an
der Unterseite und Henkel, die wie Tiere geformt waren. Um den
Schauenden hatten sich in einem dichten Kreis die wichtigsten Männer
der Hundert Familien versammelt, ehrenwerte Krieger, die Kurierreiter
und die Anführer der Streitwagentruppen. Immer wieder griff ein
Schüler des Schauenden in einen Korb und streute getrocknete
Kräuter in die Feuer. Rauch wallte auf und erfüllte die
Sinne der Wartenden mit Wohlgeruch. Wenn sich die Krieger unruhig
bewegten, knirschte Leder und klirrten die metallenen Teile der
feinverzierten Rüstungen und Waffen. Schulterblätterknochen
von Rindern, Schafen und Schweinen lagen im Kreis vor den Knien des
kahlen Greises, Panzer von Schildkröten waren ebenso angebohrt
wie jene weißen Knochen. Der Schauende versenkte sich lange und
schweigend in seine Aufgabe, dann nahm er aus einem der Kessel ein
glühendes Bronzewerkzeug und hielt es an den Rand einer dieser
Vertiefungen. Der Knochen rauchte, er knisterte, und dann durchzog
ihn ein breiter Spalt, ein zweiter Riß zweigte rechtwinklig
davon ab.
»Günstig«, sagte der Schauende. »Die Frage
war gestellt. Die schwarze Götterwolke kann bekämpft
werden.«
Mit einem zweiten Bronzehaken aus einem anderen Kessel erzeugte
der Schauende in einem Schweineknochen einen zweiten Riß, von
dessen Hauptlinie in einem anderen Winkel ein Nebenriß
absplitterte. Ein Stöhnen ging durch den Kreis der Wartenden,
als der Weissagende das Orakel deutete.
»Die Frage war gestellt. Keiner aus unserem Land kann die
Wolke besiegen.«
Die Fragen waren in der Symbolschrift der Chou-Nomaden auf die
jeweiligen Knochen geschrieben worden, mit feinen Pinseln und
schwarzer Tusche. Die dritte Frage lautete:
Wird die Wolke vergehen?
Zwischen der Großen Ebene und den westlichen Gebirgen hing
sie über dem Land und verdarb die Ernte, ließ Regen
entstehen, der die Flüsse steigen ließ und alles
überschwemmte, versteckte die Sonne, die Sterne und den Mond.
Der kleine Palast befand sich am Gelben Fluß. In wenigen Tagen
würde der Schatten der Wolke auf die Stallungen, die Felder und
Teiche fallen.
»Die Wolke wird vergehen«, sagte der alte Mann in dem
reich verzierten Gewand. »Es wird ein Zeichen geben.«
Alle elf Knochen und Schildkrötenpanzer wurden vom heißen
Metall berührt, zeigten Sprünge der Weissagung, und diese
Orakel lauteten:
Ein Fremder wird uns helfen. Es kommt ein Schiff mit Drachenaugen.
Ein Grab wird geöffnet werden. Die Schwarzhaarigen werden
überleben. Viel Arbeit wartet auf
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