PR2604-Die Stunde der Auguren
eindringen, die subterranen Industrieanlagen, Energiegeneratoren und Energieverteilsysteme und dort beträchtliche Schäden anrichten. Oder ins All entfleuchen ...«
»Okay«, sagte Bull. »Weiter.«
»Das für uns Erschreckendste ist, dass Materie jede mikrogravitationelle Integrität verlieren und sich buchstäblich in Nichts auflösen kann. Der molekulare, atomare und subatomare Zusammenhang der Dinge löst sich auf. Die Stofflichkeit verweht. Wir nennen diese Erscheinung das Nirvana-Phänomen. Wir haben Nachricht aus London-and-Kent und aus Sydney. Dort wurde beobachtet, wie das Nirvana-Phänomen an einem Wohnturmfundament einsetzte. Die Statik versagte, das Gebäude stürzte ein.«
Wenn das um sich greift, dachte Bull, wenn das grassiert und sich die ganze Erde oder auch die anderen Planeten auflösen – wie evakuieren wir sie? Mit Schiffen, deren Hüllen sich auflösen? »Gut gewählte Bezeichnung«, sagte Bull leise. »Das war's so weit?«
»Leider nein«, übernahm nun Solon Rooda den Vortrag. Der Residenz-Minister für Gesundheitspflege und Soziales schüttelte knapp seine rote Mähne und sagte: »Auch psychisch hat sich einiges verändert: Viele Menschen leiden an Fehlfunktionen ihrer Sinne und ihres mentalen Apparates. Sie erkennen die Stimmen oder Gesichter ihrer engsten Partner nicht mehr oder ordnen sie falsch zu. Längst vertraute Gegenstände erscheinen ihnen neu und nie gesehen. Pathologisch ähnelt dieses Syndrom von Sensualirritationen einer leichten Demenz. Das ist nicht lebensbedrohend, natürlich. Aber – es wäre natürlich problematisch, wenn wir anfangen, uns selbst zu vergessen.«
»Wie nennen wir dieses Phänomen?«
Rooda zuckte mit den Achseln. »Ein vorläufig namenloses Grauen.«
Leises Gelächter quittierte diesen Scherz.
Bull nickte nachdenklich. »Wie sieht es in der weiteren Umgebung des Systems aus?«, fragte er von Strattkowitz.
»Die Fernortungsdaten werden analysiert«, sagte der Staatssekretär. »Sie sind teilweise widersprüchlich, teilweise unverwertbar. Es ist, als ob wir mit bloßem Auge ins Wasser schauen und sehen wollen, was am Grund des Sees liegt – alles verworren, verzerrt und verdunkelt. Gib uns eine weitere Stunde Zeit.« Er riss den Mund zu einem großen Gähnen auf. Ein Medobot schwirrte herbei; von Strattkowitz wimmelte ihn mit der Hand ab. »Es geht schon.«
»Aber es geht dir nicht gut«, sagte die Maschine.
»Wem geht es schon gut?«, murmelte der Staatssekretär. Er massierte sich mit beiden Händen den Nacken.
»Falscher Heldenmut«, tadelte die Maschine. »Können wir uns auf eine weitere Dosis einigen?«
Von Strattkowitz seufzte und nahm die Hände aus dem Nacken. »Bedien dich.«
*
Das ganze Solsystem befand sich überwiegend noch im Schockzustand. Bull und Ybarri koordinierten die Arbeiten, waren die letzten Instanzen.
Hin und wieder schlossen sich die beiden mit Homer G. Adams kurz, der die Aufgabe übernommen hatte, die Grundversorgung Terras und der anderen besiedelten Himmelskörper des Systems und der fast zwölf Milliarden Einwohner sicherzustellen.
Bull hatte Befehl gegeben, die Einheiten der Flotte vorläufig in stationäre Orbits zu lenken. Von dort aus gelang es mehr und mehr, die Meteoriten außerhalb der Atmosphäre abzufangen und Einschläge weitgehend zu verhindern.
Weitgehend, aber nicht vollständig: Zwei venusische Städte wurden schwer getroffen, auf der Erde schlug ein Steinbrocken in Moskaus Stadtteil Selenograd ein, tötete Hunderte Bewohner und richtete erhebliche Zerstörungen an.
Ein Frachtraumschiff der BULLCARRIER-Klasse wurde auf dem Weg vom Mars zu einem der Jupitermonde vom Nirvana-Phänomen erfasst und restlos vernichtet. Etliche größere und kleinere Einheiten hatten mit den anderen irregulären Phänomenen zu kämpfen. Über Australien wurde nur mit Mühe der Absturz eines Schlachtschiffes der APOLLO-Klasse verhindert.
»Mit einem Wort: Chaos«, sagte Bull.
Adams' Gesicht im Holo flackerte unstet und wirkte fast durchsichtig. »Ein Chaos, das zunimmt, oder eines, das wir zunehmend in den Griff bekommen werden?«
Bull zuckte kurz mit den Achseln. »LAOTSE, NATHAN und alle anderen Positroniken mit biologischem Anteil regenerieren sich nach eigener Auskunft noch. Die reinen Positroniken sind sich mit unseren Wissenschaftlern darin einig, dass sie keine Prognosen abgeben können. Jedenfalls keine, die mehr wert wären als ein Raten ins Blaue.«
»Weil sie keinen Präzedenzfall kennen und die
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