PR2632-Die Nacht des Regenriesen
verzichtete auf einen gewissen Bestand an Gewässern, an Wiesen und Wäldern, die, wenn auch von künstlichem Licht beschienen, Fotosynthese betrieben wie ihre Artgenossen auf den Planeten.
Da die Landschaft ringförmig war, führten die Wanderwege in sich selbst zurück – Gelegenheit zu schier endlosen Spaziergängen, zum Laufen und zur Beobachtung der Tiere, die dort lebten. Kängurus und Schimpansen waren die Favoriten auf Schiffen, die überwiegend mit Solsystemlern bemannt waren; im Wasser Flussdelfine und – woran Margaud sich nie würde gewöhnen können – Pinguine, die genetisch an das Leben in einem wärmeren Klima angepasst worden waren.
In den Bäumen Eulen; in den Höhlen der künstlichen Berge Scharen von Fledermäusen, die ins Freie stoben, wenn die Landschaft auf Abenddämmerung gestellt wurde oder auf Nacht.
Der Landschaftsring eines Schiffes der NEPTUN-Klasse war ungefähr siebzig Meter breit und reichte sieben Stockwerke tief. Genug, um ein paar sanften Hügeln Raum zu geben, lang gestreckten Tälern, über die sich ein weiter, wenn auch nur holografischer Himmel spannte.
Die dafür ausgerichtete künstliche Schwerkraft sorgte dafür, dass ein Fluss durch das Land mäandern konnte, der ohne Quelle oder Mündung immer abwärtsströmte.
Als sie das Portal zur Landschaft öffneten, schlug ihnen ein eisiger Hauch entgegen.
Sie traten ein.
Das Portal schloss sich hinter ihnen und ging in den Chamäleon-Modus.
Helia Margaud und ihre Begleiter standen auf einem Hügel. Der Himmel war wolkenlos und blau, aber etwas stimmte nicht. Es war nicht das reine Blau, das den Himmel über Terra nachahmte, sondern eine unwirklich marmorierte, bewegungslose Farbfolie, fast zu hell, zu blendend. Ihr fehlte alle räumliche Tiefe.
Doch das war es nicht, was Margaud frösteln ließ.
Der Fluss, auf den sie nach einigen Schritten hinabschauen konnten, lag vereist. Das Eis war grau und schien undurchsichtig.
Auf dem gefrorenen Fluss wie auf seinen beiden Ufern stand eine Unzahl von Pneumoliegen. Auf jeder Liege ruhte ein Mensch.
»Bingo«, sagte Miravete.
*
An den Liegen standen oder schwebten Medoroboter. Hin und wieder glitt eine der Maschinen von der einen Pneumoliege zur anderen und verharrte dort.
»Ein Lazarett«, sagte Miravete. »Warum hat man sie nicht in die Medostationen gebracht?«
»Gehen wir und fragen«, schlug Margaud vor.
Sie warf einen Blick auf ihren Multikom. Es war 11.09 Uhr. Vorausgesetzt, dass die BOMBAY ihr Tempo nicht verändert hatte, war das Schiff nur noch etwas über zehn Stunden von der Erde entfernt.
Ob Conant oder Baeting von der LEIF ERIKSSON bereits einmal das Feuer eröffnet hatten? Hatte es Warnschüsse gegeben?
Margaud jedenfalls hatte nichts davon bemerkt.
Luna hatte inzwischen die Körper von seinem SERUN zählen lassen. »71 Menschen«, flüsterte er. »So viele liegen jedenfalls hier in Sichtweite. Keine Ahnung, was hinter den Biegungen der Landschaft noch wartet.«
Schließlich erreichten sie die erste Pneumoliege. Dort lag eine Frau, vielleicht fünfzig oder sechzig Jahre alt. Ihr Körper war bis über den Kopf in eine Thermofolie gehüllt. Nur ihr Gesicht blieb zwischen Haaransatz und Kinn unbedeckt.
Neben ihr stand ein Medoroboter auf dem Boden. Margaud konnte nicht sehen, ob die Maschine nur ihr Prallfeld ausgeschaltet hatte, ansonsten aber aktiv war. Jedenfalls hinderte der Roboter sie nicht, näher an die Liege heranzutreten.
Margaud legte der Frau die Hand an die Wange. Kurz darauf wurden ihr die Daten ins Visier eingeblendet. »Ihre Lebenszeichen sind schwach, aber ihr Zustand scheint nicht lebensgefährlich«, teilte sie den anderen mit. »Ihre Körpertemperatur ist stark reduziert. Verlangsamter Herzschlag. Reduzierter Stoffwechsel.«
»Klingt, als ob sie im Winterschlaf läge«, überlegte Luna.
In diesem Moment aktivierte der Medoroboter sein Prallfeld und schwebte ein Stück näher heran. »Guten Tag«, begrüßte die Maschine sie. Margaud konnte dem nun aufleuchtenden Photonensensorband entnehmen, in welcher Reihenfolge der Medo sie abtastete. »Wie geht es euch?«
»Es geht uns gut«, antwortete Margaud vorsichtig.
»Ich kann euch nicht als Besatzungsmitglieder identifizieren«, sagte der Roboter. »Wer seid ihr? Wann und in welcher Eigenschaft seid ihr an Bord gekommen?«
»Euer Schiff sendet einen unspezifischen Notruf aus«, erklärte Margaud. »Wir haben die Pflicht und das Recht, nach der Ursache für eure Not zu
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