Pralinen im Bett: Schuhdiebe, Mutterliebe, Seitenhiebe und weitere Tücken des Alltags (German Edition)
unsichtbar geworden war, dann war der Pass nun mal NICHT DA! Mit schwitzigen Händen begann ich mein Zimmer auseinander zu nehmen, wühlte in den Taschen jedes Kleidungsstücks in meinem Schrank, spähte in alte Rucksäcke und Handtaschen, zerrte Bücher aus dem Regal, und obwohl
ich auf eine Hand voll sandiger Drachmen und eine halbe Tüte unverständlicherweise im Stich gelassener Malteser stieß (noch essbar, eigentlich sogar ganz lecker), fand ich den Pass nicht. Dann startete ich einen Angriff auf den Rest der Wohnung, und zu später Nachtstunde musste ich mir das Unaussprechliche eingestehen: Mein Pass war nicht da! Zu diesem Zeitpunkt stand ich kurz davor, vor Entsetzen zu wimmern; obgleich das Ticket nach New York ein Riesenloch in meine mageren Finanzen gerissen hatte, war es nicht veränder- und nicht rückerstattbar. Wenn ich den Pass nicht innerhalb der nächsten zwei Tage auftreiben konnte, würde ich nicht nach New York fliegen.
Ich rief meine Mutter in Irland an. Nicht dass sie etwas hätte tun können, aber egoistisch, wie ich war, dachte ich, geteiltes Leid ist doppeltes Leid. Wenigstens versprach sie mir, zum Heiligen Antonius zu beten – für all diejenigen, die sich nicht mit den Details des katholischen Aberglaubens auskennen: Man betet zum Heiligen Antonius, wenn man etwas verloren hat, und wenn das Gesuchte dann wieder zum Vorschein kommt, spendet man etwas für die Armen. Unter normalen Umständen entlocken mir solche Maßnahmen nur Hohn und Spott, aber in diesem Moment war ich so verzweifelt, dass ich sogar beinahe selbst gebetet hätte.
Mein Zimmer sah aus wie nach einem Bombenangriff, als ich zu Bett ging. Ich konnte kaum schlafen und stand gegen fünf Uhr früh schon wieder auf, sauste wie ein tanzender Derwisch durch meine stille Wohnung, suchte hinter Müslipackungen und in Videohüllen, und als ich zur Arbeit kam, war ich längst ein hohläugiges Nervenbündel, mit dem Geschmack von Panik im Mund.
Postwendend überfiel ich meine Chefin Charlotte mit meiner Schreckensgeschichte, und sie riet mir seelenruhig, einen neuen Pass zu beantragen.
»Aber es dauert Wochen, bis man einen neuen Pass kriegt, und
ich fliege doch schon übermorgen!« Ich musste mich total zusammenreißen, um nicht laut zu kreischen.
»Ruf doch bei der irischen Botschaft an, sag, dass es sich um einen Notfall handelt, und schick einen Boten, damit er dir das Antragsformular holt.«
Innerhalb von einer Stunde lag das Formular auf meinem Schreibtisch, und Charlotte half mir durchzulesen, was ich alles brauchte, weil mir vor lauter Aufregung die Buchstaben vor den Augen herumtanzten. Zuerst einmal brauchte ich ein Passfoto, also kämmte sie mir die Haare, schickte mich zum nächsten Fotoautomaten und schärfte mir ein, das Lächeln nicht zu vergessen. (Übrigens ist das Bild immer noch in meinem Pass, und ich habe darauf eine sehr hübsche pistaziengrüne Hautfarbe.)
Als Nächstes brauchte ich jemanden, der befugt war, das Bild zu beglaubigen, und meine Bankmanagerin erschien mir als die nahe liegende Wahl. Doch obwohl sie fast täglich mit mir korrespondierte und immer einen ziemlich unverfrorenen Umgangston hatte, wollte sie mich auf einmal nicht mehr kennen.
Also hängte sich Charlotte ans Telefon und versuchte es bei einem Richter, den sie kannte, nur stellte sich leider heraus, dass der in Urlaub war. Aber sie ließ sich nicht entmutigen und trieb ganz in der Nähe einen Anwalt auf, der ihr einen Gefallen schuldete und bereit war, die Regeln zu beugen und so zu tun, als würde er mich kennen. Ich flitzte also zu ihm rüber und wieder zurück ins Büro, wo Charlotte mir anbot, meine Arbeit später zu erledigen, mich ohne viel Aufhebens zur Tür schob und dabei rief: »Los geht’s, Abmarsch!«, als wäre ich die Angehörige einer Spezialeinheit, die gleich mit dem Fallschirm über dem Feindgebiet abspringt.
Nach Atem ringend rannte ich durch die Straßen von Belgravia, zählte die Nummern der Hochzeitstorten-Rokoko-Villen und
suchte die irische Botschaft. Schließlich hatte ich sie gefunden, keuchte die Treppe zu der eleganten Haustür empor und gleich wieder hinunter, da ich erfahren hatte, dass das sich Passamt im Kellergeschoss befand. Wie ein geölter Blitz sauste ich die klapprige Wendeltreppe hinunter, riss die Tür auf – und auf einmal war ich nicht mehr im eleganten Belgravia, sondern in einem kleinen Postamt im irischen Athlone. Ein winziges Kabuff mit vier Reihen Plastikstühle unter
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