Pretty - Erkenne dein Gesicht
wurden groß, aber von den Pretties im Kreis wirkte niemand überrascht. Ihre Gesichter zeigten eine Mischung aus Angst und Erregung.
Shay hielt das Messer hoch und verfiel wieder in diesen langsamen, gedehnten Sprechgesang, und Tally hörte ein Wort, das oft genug wiederholt wurde, um verständlich zu sein.
Es klang wie Schlitzer.
"Machen wir, dass wir wegkommen", sagte sie so leise, dass Zane es offenbar nicht gehört hatte. Sie wollte auf ihr Hubbrett steigen und fliehen, aber sie stellte fest, dass sie sich nicht bewegen oder wegschauen oder die Augen schließen konnte.
Shay nahm das Messer mit der linken Hand und hielt sich die Schneide gegen den rechten Unterarm, das feuchte Metall glitzerte. Sie hob beide Arme, drehte sich langsam im Kreis und fixierte die anderen mit ihrem brennenden Blick. Dann schaute sie in den Regen hoch.
Es war eine so kleine Bewegung, dass Tally sie aus ihrem Versteck heraus kaum wahrgenommen hatte, aber die Reaktionen der anderen zeigten ihr, was geschehen war. Ihre Körper zitterten, ihre Augen weiteten sich in entsetzter Faszination - wie Tally konnten sie nicht wegschauen.
Dann sah sie, wie das Blut aus der Wunde sickerte. Es lief in einem dünnen Rinnsal über Shays regennassen, erhobenen Arm zu ihrer Schulter, erreichte ihr Unterhemd und verlieh ihm eine Farbe, die eher rosa als rot war.
Shay drehte sich einmal im Kreis, um allen die Gelegenheit zu geben, sie zu betrachten. Ihre langsamen, bewussten Bewegungen waren ebenso verstörend wie das Blut, das über ihren Arm floss. Die anderen zitterten jetzt sichtlich und tauschten immer wieder verstohlene Blicke.
Endlich ließ Shay den Arm sinken, sie schwankte ein wenig und hielt das Messer in die Runde. Ho trat vor, um es ihr abzunehmen, dann nahm sie seinen Platz im Kreis ein.
"Was ist das hier?", flüsterte Zane.
Tally schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Der Regen um sie herum wurde plötzlich betäubend laut, aber sie hörte, wie ihre eigenen Worte das Rauschen durchbrachen: "Das ist Shays neues Heilmittel.“
***
Die anderen folgten der Reihe nach Shays Beispiel.
Tally rechnete die ganze Zeit damit, dass sie weglaufen würden. Wenn nur einer oder eine die Flucht ergriffe, dachte sie, dann würde der Rest wie verängstigte Kaninchen im Wald verschwinden. Aber etwas - die unheimliche Umgebung, der Regen, der alle Kraft aufsog, oder vielleicht Shays wahnsinniger Gesichtsausdruck - fesselte sie an Ort und Stelle. Alle sahen sie zu und ritzten sich. Und ihre Gesichter wurden dabei nicht wie das von Shay: ekstatisch und wahnsinnig.
Mit jedem Schnitt fühlte Tally, wie etwas in ihr hohl wurde. Sie konnte nicht vergessen, dass hinter diesem Ritual mehr als nur Irrsinn steckte. Sie dachte an den Abend des Kostümfestes. Ihre Angst und ihre Panik hatten sie prickelnd genug werden lassen, um Croy zu folgen, aber ihr Denken war noch immer das einer Pretty gewesen. Erst nachdem Peris’ Knie sie bei dem Absprung getroffen hatte - und die Haut über ihrem Auge aufplatzen ließ war Tallys Kopf wirklich klar geworden.
Shay hatte diese Wunde bewundert, es war ihr Vorschlag gewesen, sie mit einer Tätowierung zu verewigen. Offenbar hatte sie auch erfasst, wie diese Verletzung Tally verändert hatte, dass sie sie zu Zane und dann auf den Sendemast und schließlich zum Heilmittel geführt hatte.
Und jetzt teilte Shay ihre Erkenntnis mit anderen.
"Das ist unsere Schuld", flüsterte Tally.
"Was?"
Tally wies mit geöffneten Händen auf die Szene, die sich vor ihnen abspielte. Sie und Zane hatten Shay das gegeben, was sie brauchte, um ihr Heilmittel zu verbreiten: stadtweiten Ruhm, Hunderte von Pretties, die alles dafür geben würden, um Krims zu werden - die ihr Blut gaben, um Krims zu werden.
Oder was immer sie nun wurden. Schlitzer, hatte Shay gesagt.
"Sie gehört nicht mehr zu uns."
"Warum sitzen wir bloß rum?", zischte Zane. Er hatte die Fäuste geballt und sein Gesicht lief im Schatten seiner Kapuze rot an.
"Zane, beruhige dich." Tally nahm seine Hand.
"Wir müssten sie dazu bringen ..." Seine Stimme versagte mit einem würgenden Husten, seine Augen weiteten sich. "Zane?", flüsterte sie.
Er rang um Atem und seine Hände griffen in die leere Luft.
"Zane!", rief Tally. Sie packte seine andere Hand und starrte in seine hervorquellenden Augen. Er atmete nicht mehr. Tally schaute zur Lichtung hinüber, auf der verzweifelten Suche nach Hilfe, irgendeiner Hilfe - sogar von den Schlitzern. Einige von ihnen hatten ihren
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