Pretty - Erkenne dein Gesicht
haben und keinen Toten. Denn jetzt sind wir noch immer an der Reihe und vielleicht werde ich dabei sein, wenn mein Vater gerächt wird."
Tally war sprachlos. In wenigen Sekunden hatte Andrew Simpson Smith sich aus einem trauernden Sohn in eine Art … Wilden verwandelt. Seine Finger umklammerten das Messer so fest, dass das Blut aus ihnen entwich.
Sie riss ihre Blicke von der Waffe los und schüttelte den Kopf. Es war nicht fair, Andrew für unzivilisiert zu halten. Was Andrew beschrieb, war so alt wie die Zivilisation selbst. In der Schule war von dieser Art von Blutrache die Rede gewesen. Und die Rusties hatten es noch schlimmer getrieben, sie hatten Massenkriege erfunden, hatten immer mehr todbringende Technologien entwickelt und damit fast die Welt zerstört.
Aber Tally konnte es sich nicht leisten, zu vergessen, dass diese Leute hier ganz anders waren als alle, die sie jemals gekannt hatte. Sie zwang sich dazu, in Andrews grimmiges Gesicht zu blicken und seine seltsame Begeisterung über das Messer in seiner Hand zu registrieren.
Dann fielen ihr Dr. Cables Worte ein. Die Menschheit ist ein Krebs, aber wir sind das Heilmittel. Die Städte waren gebaut worden, um der Gewalttätigkeit ein Ende zu setzen, und sie war auch ein Teil dessen, was bei der Pretty-Operation geschaltet wurde. Die Welt, in der Tally aufgewachsen war, tat alles, um diesen entsetzlichen Kreislauf zu unterbrechen.
Aber hier sah sie nun mit eigenen Augen den Naturzustand ihrer Art. Indem sie aus der Stadt geflohen war, war Tally vielleicht dem hier in die Arme gelaufen.
Falls nicht Dr. Cable Unrecht hatte und es noch eine weitere Möglichkeit gab.
Andrew schaute von dem Messer auf, steckte es wieder in seinen Gürtel und hob seine leeren Hände. "Aber nicht heute. Heute werde ich dir helfen, deine Freunde zu finden." Er lachte und strahlte plötzlich wieder.
Tally atmete langsam aus und verspürte einen Moment lang Lust, seine Hilfe abzulehnen. Aber sie hatte sonst niemanden, und die Wälder zwischen ihr und der Ruinenstadt waren voll von verborgenen Pfaden und natürlichen Gefahren und vermutlich gab es dort auch mehr als einen, der sie für einen Eindringling halten würde. Selbst wenn sie nicht von einer blutrünstigen Bande von Rachsüchtigen gejagt würde, konnte sich schon ein verknackster Knöchel in der eiskalten Wildnis als tödlich erweisen.
Sie brauchte Andrew Simpson Smith, so einfach war das. Und er hatte sich doch sein ganzes Leben lang darauf vorbereitet, Menschen wie ihr zu helfen. Gottheiten.
"Na gut, Andrew. Aber wir brechen heute auf, ja? Ich hab’s eilig."
"Natürlich. Heute." Er fuhr sich über die Stelle, wo sein Bartflaum zu wachsen begann. "Diese Ruinen, wo deine Freunde warten. Wo sind sie?"
Tally schaute zur Sonne hoch, die noch immer tief genug stand, um den östllichen Horizont zu beleuchten. Nach kurzer Berechnung zeigte sie nach Nordweste, zurück in Richtung Stadt und zu den dahinter gelegenen Ruinen."Ungefähr eine Woche Fußweg in diese Richtung."
"Eine Woche?"
"Das sind sieben Tage."
"Ja, ich kenne den Kalender der Gottheiten", sagte er ge kränkt. "Aber eine ganze Woche?"
"Ja. So weit ist das doch auch wieder nicht?" Die Jäger waren auf ihrem Marsch in der Nacht unermüdlich gewesen.
Er schüttelte ehrfürchtig den Kopf. "Aber das ist doch hinter dem Rand der Welt.“
Götterspeise
Gegen Mittag brachen sie auf.
Das ganze Dorf fand sich zu ihrem Abschied ein und viele brachten Gaben für die Reise. Das meiste davon war zu schwer zum Tragen und Tally und Andrew lehnten höflich ab. Er füllte jedoch seinen Rucksack mit den abscheulich aussehenden Streifen von getrocknetem Fleisch, die ihnen überreicht wurden. Als Tally aufging, dass dieser scheußliche Kram als Wegzeh rung dienen sollte, versuchte sie ihren Ekel zu verbergen, was ihr aber nicht sonderlich gut gelang. Das einzige Geschenk, das sie annahm, war eine Schleuder aus Holz und Leder, die ihr eines der älteren Mitglieder ihres Winzling-Fanclubs hinhielt. Tally fiel ein, dass sie in ihren Winzling-Zeiten damit ziemlich gut hatte umgehen können.
Der Häuptling gab ihnen vor aller Augen seinen Segen für die Reise und fügte eine letzte Bitte um Entschuldigung hinzu - die Andrew übersetzte – weil er einer so jungen und hübschen Gottheit fast den Schädel eingeschlagen hätte. Tally versicherte ihm, dass sie den älteren Gottheiten nichts von diesem Missverständnis erzählen würde, und der Häuptling schien daraufhin
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