Prickel
zurück. Höhnisch grinsend lassen sie mich nägelkauen, fingertrommeln, lenkradboxen, fluchen, mit dem Gas spielen und schmoren, schmoren, schmoren.
Bleibt die Autobahn. In Ruhr-City auf die Bahn zu gehen, um irgendwo schneller hinzukommen, gleicht Russisch Roulette mit drei Kugeln im Sechsschüsser. Wenn es klappt, dann hat man Glück gehabt.
Als ich nach der zwanzigsten Ampel, der fünfzehnten zickzack-fahrenden Fahrschule, dem siebten rangierenden Betonmischer, der fünften Umleitung, dem vierten Viehtrieb und der dritten Prozession immer noch nicht einmal aus Oberhausen heraus war, hatte die Vision, gleich noch den Vorbeimarsch zweier Karnevalszüge und einer Hunderttausend-Mann-Lichterkette absitzen zu müssen, dermaßen von mir Besitz ergriffen, daß ich zu allem bereit war. Schicksalsergeben folgte ich dem blauen Pfeil.
Und ... PÄNG!
Schon auf halbem Weg die Auffahrt herunter ein Meer von Bremslichtern. Die windstille, unbewegliche Sorte. Sofort wollte ich wenden, zurücksetzen, irgend etwas, als hinter mir mit einem Zischen der Luftdruckbremse ein Sattelschlepper formatfüllend zum Stehen kam. Aus.
Es war wieder mal Fünf, als ich in Ratingen von der Bahn abbog. Und es war Endgeschwindigkeit im bodennahen Tiefstflug, mit der ich durch das Tor des Anstaltsparks geschossen kam. Die Glut an meiner Zigarette war fünf Zentimeter lang und die Adern in meinen Schläfen pochten in einem etwas schnelleren Takt als das Zucken um mein rechtes Auge . Ansonsten war ich die Ruhe selbst. Und das war gut so. Es würde sicherlich der Ruhe und der Geduld bedürfen, um Bernd Roselius die eine oder andere Äußerung zu entlocken. Und Ruhe und ein höfliches Auftreten wären auch bestimmt hilfreich bei den heute noch anstehenden Verhandlungen über weitere Besuchserlaubnisse.
Und absolute Ruhe und Selbstbeherrschung waren vonnöten, um nicht zumindest den Versuch zu starten, die Arme irgendwie durch die Schubladenvorrichtung zu winden, den Pförtner am Hals zu packen und bis zum Eintreten der Besinnungslosigkeit zu schütteln.
»Warten Sie«, sagte er, nach einer Zeit, die ein Bergkristall braucht, um zur Größe eines Salzstreuers heranzuwachsen, und schickte mir meine Papiere wieder raus.
Morgen, das schwor ich mir, würde ich um Punkt vierzehn Uhr hier auf der Matte stehen.
Pfleger Weber kam mich holen.
»Spät dran«, stellte er zur Begrüßung fest.
Ich schob es auf den Verkehr.
»Aber Sie haben Glück«, meinte er aufgeräumt.
»Prickel ist richtig gut drauf, heute.«
»Wer?« fragte ich.
»Na, Prickel - Bernd Roselius, Ihr Kunde. Alle Welt nennt ihn so. Wußten Sie das nicht?«
Nein, hatte ich nicht gewußt. Wie so vieles. Nüchtern betrachtet ging ich meine Aufgabe mies vorbereitet an. Bei Veronika, heute abend - aah, verdammt, da wollte ich ja auch noch hin! Und noch mal nach Oberhausen . Doch langsam. Eins nach dem anderen.
»Und wieso ist er so gut drauf, mein Kunde?«
Weber schloß eine Gittertür auf und schob rüde einen Patienten beiseite, der gerne mit durch gewollt hätte.
»Er redet doch nicht«, sagte er. »Oder zumindest nicht oft, oder nicht mit jedem, was weiß ich. Es ließ sich auf alle Fälle kein Schema entdecken. Und weil die Ärzte ja nicht den ganzen Tag Zeit haben, sein Händchen zu halten, bis er sie an seinem Gedankengut teilhaben läßt, haben sie heute sowas wie ein Wahrheitsserum an ihm ausprobiert. >Blockadebrecher< sagen wir dazu. Tolles Zeug, echt.«
»Und«, fragte ich, »hat es was genützt? Hat er gesprochen?«
Weber zuckte die Achseln.
»Ich war nicht dabei«, sagte er. »Ich hab ihn nur nachher abgeholt. Und, Junge, war der gut drauf, danach. Nicht so schlapp, wie sonst immer. Aber das werden Sie ja gleich selbst sehen«, meinte er und schlug mit dem Knüppel gegen die Zellentür. »Das Zeugs hält 'ne Weile vor.«
Die Tür fiel hinter mir ins Schloß. Ich hatte insgesamt siebzehn Minuten zur Verfügung, immerhin sechs mehr als gestern. Im Stau hatte ich ein wenig nachgedacht und ein paar Fragen vorsortiert. Das hätte ich mir schenken können.
Bernd Roselius, oder Prickel, wie man ihn anscheinend nannte, hielt sich an der Kette seiner Handfessel fest wie an einer Rettungsleine. Er zitterte am ganzen Leib. Und nicht vor Kälte.
Ich sagte erstmal gar nichts. >Gut drauf<, dachte ich. Vorsichtig, beide Handflächen nach vorne gedreht, machte ich einen Schritt über die aufgepinselte Linie.
»Ich bin ein Freund«, sagte ich dazu, weil mir einfach nichts besseres
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