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Prickel

Prickel

Titel: Prickel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Juretzka
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einfiel.
    Roselius sah an mir hoch. Höher und höher und höher. Voll ungläubigen Staunens. Wie ein Sauerländer vor dem Eiffelturm.
    Seine Pupillen waren riesig. Sie wanderten von mir weg zu einem Fleck auf der Wand hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, daß es da nichts für mich zu sehen gab, doch die Versuchung war groß. Seiner Mimik zufolge fand hinter meinem Rücken ein Schauspiel statt, grandios und entsetzlich zugleich, wie das Heranrollen einer feindlichen Armee etwa, oder einer Flutwelle.
    Eine schwache Ahnung zupfte mich am Ärmel. Oder, wohl eher eine Erinnerung. So, oder so ähnlich, hatte ich selber schon aus der Wäsche geguckt, im Kampf mit Logik und Proportionen. Mir dämmerte, was für ein tolles Serum sie diesem armen Schwein hier verpaßt hatten. Wie auf Kommando begann er zu wimmern, sich in die Ecke zu verkriechen und so klein zu machen, wie er nur konnte, die aufgerissenen, entsetzten Augen in einer Weise auf die Decke gerichtet, daß ich selber versucht war, vorsichtshalber zumindest den Kopf einzuziehen.
    Hmm, dachte ich. >Feed your head<, hatten Jefferson Airplane damals gesungen, in ihrem Klassiker von einem Drogenwerbesong namens >White rabbit<.
    Bernd Roselius war auf dem Horror, wie wir das zu der Zeit genannt haben. Der tolle Blockadebrecher war LSD. Das, oder eine ähnliche, stark halluzinogene Droge.
    Man kann von sowas gut drauf kommen, vorausgesetzt, man schluckt es freiwillig und weiß halbwegs damit umzugehen; doch selbst unter den besten Umständen bleibt immer die Gefahr, in einen dieser übermächtigen Angstzustände abzurutschen, die einem den Keks aufweichen können. Eine ganze Reihe Bekannter von mir, die es seinerzeit damit übertrieben hatten, schusseln heute noch mit einem neben sich durch die Gegend.
    Ich hämmerte mit der Faust an die Zellentür. »Weber! Machen Sie auf!« rief ich.
    »Das ging schnell«, fand er.
    »Hören Sie«, sagte ich zu ihm, »sehen Sie ihn sich an. Er halluziniert. Meiner Ansicht nach braucht er ein starkes Beruhigungsmittel. Valium, zum Beispiel.«
    Weber sah auf ihn herunter. »Paar Nebenwirkungen hat sowas ja immer«, stellte er mitleidlos fest. »Na, Prickel, kennst mich noch?« Und er stupste ihn leicht mit dem Knüppel in die Rippen. Prickel drückte sich in die Ecke, als wolle er am liebsten für immer mit dem Putz verschmelzen.
    Ich sagte: »Lassen Sie das! Sie sehen doch, daß er sich fürchtet. Geben Sie ihm lieber ein Gegenmittel, ehe er für immer abdreht.«
    Knurrend wandte sich Weber zu mir um. »Spezialist, was?« fragte er in zutiefst genervtem Tonfall. »Wissen genau, was er braucht, was? Valium, he? Warum nicht gleich Morphium? Warum übernehmen Sie hier eigentlich nicht die Behandlung? He? Wo Sie doch alles wissen? Oder wollen Sie meinen Job? He? Von morgens bis abends Kindermördern den Arsch abwischen? Können Sie haben, jederzeit!« Seine Stimme wurde mit jedem Satz lauter. »Und dann können Sie sich auch von jedem hergelaufenen Klugscheißer erzählen lassen, wie man diese Tiere hier zu behandeln hat!« brüllte er.
    »Er leidet!« brüllte ich zurück. »Können Sie oder wollen Sie das nicht sehen?« Ein Blick auf Roselius genügte, um zu zeigen, daß unser Geschrei nicht eben zur Stabilisierung seines Gemütszustandes beitrug.
    »Ich werd Ihnen jetzt mal was sagen«, zischte mich Weber an, als die Zellentür aufflog. Ein nicht sehr großer, korpulenter Mann mit weißem Kittel erschien im Rahmen, Haare und Bart schlohweiß und millimeterkurz geschoren. Sein Blick durch die randlose Brille war kalt, ruhig und unübersehbar autoritär. Alles an ihm sagte: Chef. Seine Daumen ragten aus den Taschen seines Kittels, wie er so in der Türe stand und die Szene in Augenschein nahm. Etwas in seiner Art führte dazu, daß man sich automatisch wie ein ertappter Schuljunge fühlte.
    »Was ist hier los?« fragte er kaum hörbar in das Schweigen hinein.
    Der Pfleger begann eine überstürzte Erklärung. Unnötig zu erwähnen, daß er unschuldig war, auch wenn er, genausowenig wie ich oder sonst jemand hier im Raum mit Sicherheit sagen konnte, woran.
    Der Weißkittel und ich blickten uns an. Dies, soviel war uns beiden augenblicklich klar, war alles andere als der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Er hatte die Augen eines Huskies. Eines blauäugigen Huskies. Blaßblau mit kleinen, starren Pupillen. Ich sah genauer hin. Abrupt ließen sie von mir ab und brannten dem brabbelnden Pfleger eins über den Pelz

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