Prickel
und es wurde ebenso abrupt wieder ruhig in der Zelle. Am leichten Klirren der Kette konnte ich hören, daß Roselius nach wie vor zitterte.
Nein, entschied ich, der gute Mann hing nicht, wie ich im ersten Moment vermutet hatte, an der Nadel. Von den Augen her hätte man es meinen können, doch im übrigen fehlte ihm dazu dieser spezielle, satte, >zue< Ausdruck.
Es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich nicht zweimal hinschauen müssen. Ein Süchtiger erkennt einen andern auf tausend Meter. Und einen Zivilbullen ebenfalls. Als es wirklich bergab ging mit mir, bestand meine Welt praktisch nur noch aus diesen beiden Gruppen. Alle anderen Menschen fielen durch ein Wahrnehmungsraster. Man hätte mich - das ist eine Behauptung, doch es stimmt - an einem beliebigen Platz in einer beliebigen Stadt in einem beliebigen Land irgendwo auf dieser Welt absetzen können, und ich hätte keine Stunde gebraucht, um über den ersten Junkie zu stolpern und von ihm zu erfahren, wo es Stoff gibt. Man sieht das. Man sieht dieses eine Gesicht in der Menge, das mit etwas wie einer schweren Übermüdung zu ringen scheint, wirft einen Blick auf die Augen und weiß Bescheid.
Deshalb: Vielleicht nahm er irgendwas anderes, das seine Pupillen verengte, aber Morphinist war er mit Sicherheit nicht, dazu war er mir ganz einfach zu wach.
Ich fragte: »Sind Sie der behandelnde Arzt?«
Er nickte knapp. »Und der Leiter dieser Anstalt. Blandette ist mein Name; Doktor Victor Blandette. Meine Familie originiert in Frankreich«, erklärte er, als sei das, von dem Wort >originiert< einmal abgesehen, etwas ganz Besonderes.
»Kryszinski«, stellte ich mich vor, »Kristof Enrico. Ich komme aus Mülheim.« Nur ganz kurz hatte ich mit >originiert<, dann >stamme< gespielt. Nur ganz kurz.
»Ich bin Privatdetektiv«, vertraute ich der reglosen Miene des Arztes an. »Bernd Roselius' Anwältin hat mich beauftragt, die Hintergründe seiner« ... (Ich hatte >Verhaftung< sagen wollen und auch etwas über die Zweifel, die Veronika hatte, doch etwas in den kalten Augen, die jetzt wieder unverrückbar auf mir ruhten, ließ mich mitten im Satz das Steuer verreißen), »... seiner Tat etwas auszuleuchten«, sagte ich statt dessen. »Ich hatte mir ein paar erklärende Hinweise aus seinem Mund erhofft, doch als ich heute hierherkam .« Ich ließ das Satzende hängen und deutete vielsagend auf das zitternde Bündel, das meinen Klienten darstellte.
Der Doktor folgte meiner Geste mit dem Blick. Nichts änderte sich darin.
»Meiner Ansicht nach befindet er sich in einem Zustand der Panik und sieht ... Dinge.« Bewußt tat ich etwas hilflos und verzichtete auf jedes medizinische Vokabular. Ich wollte dem aufgeblasenen Stinker keinen Vorwand für Bockigkeit liefern. Und auch keine Gelegenheit, mich süffisant zu verbessern.
»Auf alle Fälle ist er unansprechbar und keine große Hilfe, das kann ich Ihnen sagen.« Ich schenkte mir auch einen Appell an sein Mitgefühl. Etwas sagte mir, daß ich damit selbst bei Freund Hein mehr Gehör gefunden hätte.
Gemessenen Schrittes betrat der Doktor die Zelle. Weber und ich mußten uns an die Wand drücken, um genug Platz zu schaffen.
»Wie lange ist er schon so?« fragte er an den Pfleger gerichtet und mit dem allerkleinsten Hauch von Vorwurf unterlegt.
»Seit heute mittag«, stammelte Weber überrascht, »seit Sie -«, des Doktors Kopf schnellte herum, und Weber schluckte -»s-seit d-der Behandlung heute mittag«, korrigierte er sich.
»Hm-hm.« Zum erstenmal nahm Blandette die Hände aus den Taschen. Sie waren rosig und kräftig. Sie sahen aus, als würden sie oft und gründlich gewaschen. Seine Rechte hielt eine gefüllte Spritze, seine Linke eine simple Knebelbinde.
»Machen Sie ihn los und halten Sie seinen Arm!« Weber gehorchte mit fliegenden Fingern. Roselius wirkte, als ob er jeden Augenblick sterben wollte, einfach nur vor Angst. Der Doktor band ihm den Arm ab, stach entschlossen zu, traf aber nicht gleich und stocherte deshalb in einer Art, die mich winden machte, herum, bevor er schließlich etwas gutes, dunkles Blut anzog, in einem glatten Rutsch abdrückte und gleichzeitig die Armbinde löste.
Roselius sackte in sich zusammen. Sein Atem ging schwer. Langsam, zwar, viel langsamer als vorher, aber schwer. Es wäre schön gewesen, hätte mir irgendwie gutgetan, wenn man ihm auch nur einen Hauch von Erleichterung angemerkt hätte, doch dem war nicht so. Seine Lider sackten, sein Kiefer, seine Arme, sein Kopf,
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