Prickel
alles sank nach unten. Die Paranoia war fort, die Halluzinationen offenbar auch, doch zu freuen schien es ihn nicht. Er wirkte einfach nur fertig, fix und fertig.
»Was genau versuchen Sie herauszufinden?« Der Doktor hatte mich mitgenommen in sein steril und beinahe übertrieben funktionell eingerichtetes Büro, gleichzeitig aber nichts von seiner Arroganz eingebüßt.
»Tja, ich weiß es selbst nicht so recht«, gestand ich freimütig. Ich hatte einmal beschlossen, so zu tun, als wäre mir herzlich wurscht, ob er meine Besuchserlaubnis verlängerte oder nicht. »So wie ich es verstanden habe, sucht seine Anwältin nach dem üblichen sozialen Hintergrund. Schwere Kindheit und so.« Ich hatte auch einmal beschlossen, ihn nach Strich und Faden zu belügen und lief mich so langsam warm. »Natürlich nur als Ergänzung zu Ihrem Gutachten gedacht, nehme ich an.« Geh ihm ruhig ein bißchen um den Bart, Kryszinski. »Ihr Einverständnis vorausgesetzt.« So, und jetzt komm rüber mit dem Wisch, Dicker, ich hab keine Zeit.
»Setzen Sie sich«, sagte er, im Tonfall um ein Tausendstel an einem Befehl vorbei, und ging ein wenig sinnend auf und ab, Hände in den Taschen, Daumen raus, Gewicht bequem nach hinten verlagert, Schultern zurück, Wanst vor. Ganz, ganz wichtiges Gesicht, wie immer.
Ich setzte mich. Direkt vor meiner Nase prangte jetzt ein großes, schweres Messingschild mit des Doktors Namen in Großbuchstaben, komplett mit allen Titeln. Prof. Dr. Dr. aber hallo! Kaum kleiner stand >Anstaltsleiter< darunter.
»Seltsam«, fand er nach einer Weile, »aber mir hat sie etwas ganz anderes erzählt?« So eine halbe Frage, in den Raum gestellt und stehengelassen.
Was denn? Daß sie Roselius für unschuldig hielt? Und daß ich dafür Beweise finden sollte? Ehrlich, es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn das gefragt, wäre damit herausgeplatzt. Er hatte so eine zähe, nachdenkliche Art, daß man ihm dauernd auf die Sprünge helfen wollte. Oh ja. Jaja.
»Anwälte«, sagte ich statt dessen und zuckte die Achseln, als sage das alles. Er warf mir einen kurzen Blick zu, der mich ahnen ließ, daß ich mir gerade eine weitere Sympathie verscherzt hatte. Und schwieg. Schweigen konnte er gut.
Ich nicht. »Was war das, was Sie Roselius verabreicht haben, heute mittag?« fragte ich, äußerlich mit ruhigem Interesse, innerlich mit viel Anstrengung meine frisch aufkochende Wut unterdrückend. Dies hier war ein mit höflichen Tönen kaschierter feindlicher Schlagabtausch, und wer zuerst die Beherrschung verlor, verlor mehr als nur sein Gesicht.
»Das brauche und das werde ich Ihnen nicht erzählen«, antwortete er entschieden.
»Schien ihm jedenfalls gar nicht gut zu bekommen«, stellte ich fest.
»Das mag für Sie als Laien möglicherweise so ausgesehen haben.«
Ich schluckte eine mindestens faustgroße Kröte. Ruhig, Kristof, ruhig.
»Worauf behandeln Sie ihn eigentlich?« fragte ich.
»Auch wenn es mich nichts angeht«, kam ich ihm zuvor. »Ich meine, ohne zumindest in groben Zügen sein Krankheitsbild zu kennen, weiß ich ja kaum, wie ich mich ihm nähern soll, wie Sie sicherlich verstehen werden?« So von Profi zu Profi. Ich war gespannt, ob er sich davon würde leimen lassen.
»Dissoziative Persönlichkeitsstörung«, sagte Dr. Dr. Blandette nach kurzem Zögern und sah mich prüfend an, wohl um zu sehen, ob ich damit etwas anfangen konnte.
Ich schaute zurück, als hätte ich das Wort gerade zum erstenmal gehört. Alles nur, um diesen Wichtigtuer bei Laune zu halten.
Er seufzte. »Dissoziative Persönlichkeitsstörung ist als solche kein Krankheitsbild, sondern hat sich im Laufe der letzten Jahre mehr und mehr zu einem Sammelbegriff für eine ganze Reihe von psychischen Störungen unterschiedlicher Art entwickelt. Am häufigsten angewendet wird der Begriff nach wie vor allerdings bei Fällen von Bewußtseinsspaltung, Aufspaltungen der Persönlichkeit. Die können« - er sah mich ernst an, zog eine Hand aus der Tasche und hob den Finger, das hab ich immer gern, das - »können unter Umständen bei dem einen oder anderen Patienten auf ein Kindheitstrauma zurückzuführen sein.«
»Sie wollen sagen«, fragte ich eifrig, »daß eine schwere Kindheit zur Spaltung der Persönlichkeit führen kann?«
Er nickte gemessen. »Kann. Muß nicht. Es kann auch andere Ursachen haben.«
»Und wie äußert sich das?«
»Nun, in unserem Fall«, sagte er gnädig (mir ging fast einer ab vor Glück - der Herr Professor
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