Priester des Blutes
Es gab keine Gerechtigkeit auf der Welt. Es gab keine Ehre. Vielleicht gab es für den Baron und seine Familie etwas wie Sieg und Eroberung, vielleicht sogar für falsche Schlangen wie Corentin Falmouth, aber Gerechtigkeit war etwas, das den Armen verkauft wurde, das, wie der Lehm und das Stroh eines Daches, wertlos war und wie dieses schon in einem leichten Gewitter dahinschmolz. Diese Bilder und Gedanken quälten mich in meinem beengten Gefängnis, und ich fragte mich, welches grausame Schicksal mich erwartete, wenn ich erst daraus befreit wäre. Oder würde ich dort liegen, bis ich starb?
Ich erwachte aus einem tiefen, aber unruhigen Schlaf und sah etwas, das ich anfangs für das Licht einer Fackel hielt. Doch bald erkannte ich, dass es sich um das Licht eines frischen, schönen Morgens handelte.
Nachdem der Deckel meines Gefängnisses entfernt worden war, zerrte mich jemand heraus - an die frische Seeluft. Ich sah die starken Arme eines Mannes von dunklem Teint, der einen langen, fransigen Bart trug. Dieser war geflochten, wie es bei den Plünderern aus dem Norden oftmals der Fall war, und er besaß buschige Augenbrauen und einen mürrischen Gesichtsausdruck, die mich an einen Dachs denken ließen. Ich werde ihn nun den »Kaiser« nennen, denn näher konnte ich der Aussprache seines fremdländischen Namens nicht kommen. Er löste meine Fesseln und warf mich in das eiskalte Meer, in der Nähe des Ufers.
In welchem Land waren wir? Es handelte sich gewiss um mein eigenes Land, auch wenn das Wasser klarer war als der Atlantik und die Felsen entlang der Küste hoch über mir aufragten. Meine Arme waren zu lange in meinem dunklen Gefängnis eingezwängt gewesen, so dass ich nicht zu schwimmen imstande war. Ich spürte, wie ich versank. Der Kaiser, ein Bär von einem Mann, sprang mir ins Wasser hinterher und zog mich ans Ufer. Ich legte
mich auf den Rücken und blickte zur Sonne auf. Sie schien mir heller, als sie es eigentlich sein sollte. Der Kaiser lachte über meine Schmerzen und sprach mit mir, als ob ich ihn verstünde. Dann holte er Wasser und ein Stück Kaninchen, das er über einem Feuer röstete. Ich sehnte mich danach, es vom Bratspieß zu reißen und hinunterzuschlingen, so groß war mein Hunger.
Zwar konnte ich nicht abschätzen, wie viele Tage ich in meinem dunklen Gefängnis verbracht hatte, aber es schien mir wie eine Ewigkeit. Auch vermute ich, dass sich sogar, als ich in meinem beengten Gefängnis eingesperrt gewesen war, jemand um mich gekümmert hatte. Ich trug nämlich nicht länger meine Kniehosen und meinen Kittel, sondern war wie für ein Armengrab gekleidet, nur in ein Stück Stoff, das kaum meine Lenden bedeckte. Kleidung wurde gebracht, die zwar nicht so gut war wie die, die ich zuvor besessen hatte, doch als ich mich etwas gesäubert hatte, warf mir ein anderer Diener einen angemessenen Kittel und Schuhe zu.
Der Kaiser behandelte seine Bediensteten nicht schlecht, und er kleidete mich auch nicht wie jemanden, der für ihn arbeiten würde. Stattdessen deutete er auf ein großes Schiff im Hafen. Aus seinen Gesten und dem einen oder anderen Wort, das er sagte, schloss ich, dass ich eine lange Reise machen würde.
Als ich wieder einige Kräfte gesammelt hatte, befestigte er erneut die Fesseln um meine Fußgelenke. Die ganze Zeit über war ich zu schwach, um mich dagegen zu wehren. Ich nahm mein Schicksal hin. Niemals würde ich Alienora wiedersehen. Niemals würde ich das Schloss des Barons am Berghang wiedersehen. Oder die Marschen, die meinen geliebten Wald bewachten. Und ich würde auch nicht in der Lage sein, meinen jüngeren Brüdern oder Schwestern zu helfen. Alles war verloren.
Die Asche meiner Mutter schwebte über mir vorbei, als graue Wolken, die nach Osten zogen.
Ich blickte zu dem Schiff, das mit Frachtgut beladen wurde und auf dem ich noch andere sah, glücklose Jünglinge, die fortgeschickt wurden, in ein unbekanntes Schicksal.
An Bord des Schiffes, wo der Kaiser unter dem befehlshabenden Offizier arbeitete, fand ich mich bald in einer anderen Dunkelheit wieder, und zwar in dem Frachtraum des Schiffes, in dem sich weitere Jünglinge und Männer drängten. Viele von ihnen sprachen meine Sprache. Von den jüngeren Knaben hörte ich Leidensgeschichten. Sie waren wie ich fortgeschickt oder entführt worden, oder auch in die Armee eingetreten, als sie in der weiten Welt ihr Glück suchten. Wir waren in Richtung Byzanz unterwegs, oder in der des Heiligen Landes, oder in weit
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