Priester des Blutes
näherten uns den geöffneten Toren.
Am Nordtor befand sich, mit Blut gezeichnet, das Zeichen des Kreuzes. Darunter stand ein Wort, das mir nichts sagte. Dennoch erinnere ich mich daran, wie es aussah:
anguis
Und unter diesem Wort war die Zeichnung einer Spirale abgebildet.
Oben auf den Toren, die all jenen offen standen, die umzukommen wünschten, befanden sich die heidnischen Kritzeleien der Ungläubigen sowie noch etwas Älteres: fratzengesichtige Frauen mit Adlerflügeln und Löwenbeinen.
»Du musst nun zu rück kehren«, sagte ich wieder ein mal, an den Knaben gewandt. »Es war falsch von mir, dir zu gestatten, mich hierher zu begleiten. Du wirst von den Feinden gefangen genommen, oder Wölfe werden dich zerreißen. Ich bin nicht dein Herr und auch niemand, der für dich sorgen kann.«
Als ich diese Worte aussprach, fühlte ich mich innerlich zerrissen. Mein Herz war schwer, eben wie das eines Menschen, der sich dazu entschlossen hatte, auf eine schreckliche Art zu sterben, und der nun umkehren will. Der Knabe selbst hatte mich gerettet, so wie ich einst ihn vor einem brutalen Herrn gerettet hatte. Auf unserer Reise hatte er mich - allein durch sein Schweigen - gelehrt, dass es Gründe gab zu leben. Gründe, zu den Kämpfen für das Gute zurückzukehren, zum Dienst, zum Ruf der Menschheit selbst. Ein Kind wie dieses war Grund genug, und ich sah in ihm all die Dinge, die in meiner eigenen Kindheit vernachlässigt worden waren. Er erinnerte mich, einfach durch sein Auftreten und seine Hingabe, an die Kostbarkeit des Lebens selbst, trotz Blitz und Hagel auf diesem Weg, den alle Lebenden bereisen müssen.
Er nahm meine Hand, nur zwei Finger davon, und sagte: »Ich bin Euer Diener, Herr.«
»Das bist du nicht«, er widerte ich. »Ich entlasse dich auf der Stelle.«
»Dann seid Ihr mein Vater, denn ich besitze keinen«, erklärte er.
»Ich bin der Vater von niemandem. Ich bin der Sohn von niemandem. Ich bin der Bruder von niemandem«, entgegnete ich.
Er erhob seine kleinen Fäuste, als wollte er mich schlagen, aber er machte keinen Schritt auf mich zu. »Du bist mein Vater!« Er blökte wie ein Lamm.
Sein Gefühlsausbruch rührte mich, und als er auf mich losstürmte, erwartete ich, dass er mich in seinem Zorn schlagen wollte. Stattdessen schlang er seine Arme um meine Taille und presste sein Gesicht gegen meinen Körper. »Sei mein Vater. Bitte. Sei mein Vater.«
Seine Stimme erinnerte mich an mich selbst als Kind. Ich dachte an meinen Großvater und wie sehr ich mir gewünscht hatte, er würde mich und meine Familie nie ver lassen. Wie sehr ich mir gewünscht hatte, dass, hätte ich ihn nur festgehalten oder wäre ich bei ihm geblieben, er nicht in den letzten Zuckungen seines Lebens zu Boden gefallen wäre.
»Ich will nicht, dass du stirbst.« In seinen Augen leuchteten Tränen, während er sprach und zu mir aufblickte.
»Ich glaube«, sagte ich schließlich, indem ich das in die Abendluft entließ, was ich seit Tagen unausgesprochen gelassen hatte, »ich will es auch nicht.«
Ich war hierhergekommen, um zu sterben. Ich hatte nicht erwartet, dass mir ein Knabe aus meinem eigenen Land eine Lektion über den letzten Tropfen von Güte im Kelch des Lebens erteilen
würde. Darüber, dass all das, was an der Welt schrecklich war, einfach durch eine einzige gute Seele wiedergutgemacht werden konnte. Dennoch kämpfte ich in meinem Inneren mit mir selbst, denn ein anderer Teil von mir hatte das Gefühl, Thibaud Dustifot wäre ein Phantom, das mir der Teufel geschickt hätte, damit es mich reizte, am Leben zu bleiben, so dass ich zusehen musste, wie sich weitere Schrecken in der Welt der Menschen entwickelten.
Thibaud und ich schlugen unser Lager gleich hinter den Toren auf. Ich beschloss, meine Verpflichtung sollte dem Knaben gegenüber stärker sein als meine Pflicht zu meiner eigenen Vernichtung, die nichtsdestotrotz erfolgen würde. Ich entschied mich, auf der Straße umzudrehen, um auf einer anstrengenden Rückreise unser Lager wiederzufinden. Ich würde mich als Deserteur den Befehlshabern auf Gnade und Ungnade ausliefern. Diese Gnade bedeutete ebenfalls den Tod, wobei ich auf eine langsamere Art und Weise getötet werden würde. Ich würde behaupten, dass ich den Knaben mit vorgehaltenem Messer entführt und ihn dazu gezwungen hätte, mich bei meiner Desertion zu begleiten.
Ich sollte niemals erfahren, ob dieser Plan geglückt wäre oder nicht, denn als ich am nächsten Morgen erwachte,
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