PRIM: Netzpiraten (German Edition)
Alice wurde die absurde Situation bewusst. Dort hinten saß die frierende Frau in K. B.s Jackett, deren nackten Körper sie gleichzeitig auf dem Bildschirm betrachtete. Sie könnte Charles Moore auch im Blickfang kennengelernt haben.
Alice überflog die Mails. Von einigen hatte man in Beagle keine Kenntnis, und sie wusste somit auch nicht, ob sie von PRIM an die First Lady geschickt worden waren. Sehr freizügig, um es vorsichtig zu sagen. Dann blieb sie an einem Wort hängen. Sie hielt sich an der Kante des kleinen Tisches fest. Sinnestaumel . Das Wort war Sinnestaumel!
Ihre nächsten Schritte waren zunächst rein mechanisch, ohne Nachdenken über ihr Tun. Sie fuhr ihr Notebook herunter und verstaute es in ihrer Rucksacktasche. Sie suchte den winzigen Waschraum in Camper auf. Sie zog ihre Strickjacke an. Alles fast in Trance. Dann setzte ihr Verstand wieder ein. Jedenfalls fühlte es sich wie ein Aufwachen an. Sie kontrollierte sich. Sie sah sich von außen. Sie sah pure Entschlossenheit.
Hatte es dieses letzten Beweises bedurft? Jetzt fügte sich alles zusammen. Sie wollte nicht darüber nachdenken, ob sie früher darauf hätte kommen müssen. Dann müsste sie sich eingestehen, dass sie jeden Verdacht sofort wieder verdrängt hatte.
Hoover ließ sich berichten, was die vier Männer aus den beiden Booten aussagten. Alice wartete nicht auf eine Pause. „Ich werde heute nicht mehr gebraucht, Paul. Meine Tante freut sich auf mich. Ich übernachte heute hier. Werde morgen Vormittag in die Arena kommen. Mrs. Krienitz wird die Sitzung nicht vor zehn ansetzen.“
Sie war sich nicht sicher, ob Hoover zugehört hatte. Er nickte nur, und als sie einen Moment zögerte, hob er den Daumen. Alice kletterte aus dem Campingwagen.
Sie lief hinüber zur Park Avenue. Sollte sie ein Taxi nehmen? Erst die Blumen, dachte sie. Und wie immer, wenn man einen bestimmten Laden suchte, war keiner zu finden. Sie spähte in die Seitenstraßen. Dann endlich ein Blumengeschäft. Blumen und Nippes. Sie kaufte zwölf rote, langstielige Rosen. Und ließ sie in durchsichtige Plastikfolie einhüllen. Bis zur 72. Straße waren es nur noch zehn Blocks. Die konnte man schnell zurücklegen. Aber ein Taxi sah viel besser aus. Im Taxi schaltete sie ihr Smartphone aus.
Sie ließ das Taxi so halten, dass es vom Foyer aus zu sehen war. Sie wusste nicht, was sie machen sollte, wenn Timothy heute nicht Dienst hatte. Entschlossen ging sie zur gläsernen Eingangstür. Der Klingelknopf in Form einer handgroßen, hinterleuchteten Taste war nicht zu übersehen. Ein Geräusch konnte Alice nicht hören, als sie darauf drückte. Schon als er zur Tür kam, erkannte sie Timothy.
„Welche schöne Überraschung, Miss Norwood!“
Er hatte tatsächlich ihren Namen behalten. Dann fiel ihr ein, dass ihr letzter Besuch auch wirklich noch nicht lange her war.
„Timothy, ich vertraue darauf, dass Sie mir die Überraschung nicht verderben.“ Alice schwenkte die Blumen. „Er ahnt noch nichts.“
„Er hat seine Anweisung nicht geändert, Miss Norwood. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.“
Timothys Lächeln ließ keinerlei Hintergedanken erkennen. Alice strahlte ihn an. „Danke!“, hauchte sie.
An der Tür zu Talburns Appartement Nummer 18.4 versuchte sie, wie damals Bob möglichst dicht an die Tastatur heranzutreten in der Hoffnung, damit der Kamera, deren Aufstellungsort sie nur vermuten konnte, den Blick zu verstellen. Natürlich würde Timothy sie beobachten. Schnell tippte sie die Ziffern 1, 0, 6 und 1. Wenn er den Code geändert hatte, würde sie klopfen müssen. Was Timothy sicher auch eher erwarten würde.
Das Lämpchen ging an, und Alice konnte die Tür öffnen. Offenbar sah Talburn fern, auf jeden Fall lief ein Gerät mit mittlerer Lautstärke. Sie bemühte sich trotzdem, kein Geräusch beim Schließen zu machen. Im Korridor war es dunkel. Nur ganz wenig Licht drang durch die fast geschlossene Tür zum Wohnzimmer, woher auch die Übertragungsgeräusche kamen. Alice legte die Blumen und die Rucksacktasche auf den Boden. Sie nahm ihre Waffe aus der Tasche. Auf Zehenspitzen lief sie zur Wohnzimmertür. Talburn saß mit dem Rücken zu ihr am Tisch und betrachtete oder sortierte glitzernde, funkelnde Edelsteine. Nichts anderes hatte sie erwartet. Im Fernsehen ging es um die Ereignisse am See. Immer noch. Leise machte sie die letzten paar Schritte. Dann drückte sie die Mündung ihrer Pistole in seinen Nacken.
„Hände hoch und hinter den Kopf! Nicht
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