Principia
sie in die Mitte, und die Rothaarige bildete die Nachhut. Dart blieb stehen, um sie vor sich vorbeigehen zu lassen, und zog seinen Hut. Der schottische Lord ignorierte ihn; Yeoman Downs erwiderte den Gruß mit einem Augenzwinkern. Das alles entschwand Darts Sinn, sobald es seinem Blick entschwunden war. Nur wenige Ereignisse waren alltäglicher als ein Höflichkeitsbesuch eines adeligen Gefangenen beim Lieutenant des Tower.
Vor der Tür von Nr.4 war ein einsamer Wächter – ein Gemeiner der Black Torrent Guards – postiert. Wie Nr.6, so war auch Nr.4 eine Art Tudor-Haus, das keinen zweiten Blick wert gewesen wäre, wenn es an einem Dorfanger in Essex gestanden und statt seiner speziellen Bewohner einen Kleinhändler und seine Familie beherbergt hätte.
Als Dart nahe genug herangekommen war, um deutlich zu machen, dass er zu Nr.4 wollte, griff der Wächter hinter sich und klopfte gegen die Haustür. Gleich darauf steckte Yeoman Clooney den Kopf aus einem daneben liegenden, offenen Fenster und fragte: »Besucher für Mylord?«
»Der Barbier«, antwortete der Wächter.
»Wird er erwartet?«
Das fragte Clooney immer. Es war die denkbar niedrigste Hürde. Trotzdem musste Dart den flüchtigen Drang unterdrücken, wegzulaufen – oder, noch schlimmer, zusammenzubrechen und zu gestehen. Aber er spürte, wie ihn der Blick des Stiefelputzers gleich einem Pistolenlauf in den Rücken stach. »Sir«, gurgelte er. Er musste blutigen Schleim abhusten und hinunterschlucken, ehe er weiterreden konnte: »Ich habe Mylord gesagt, dass ich diese Woche kommen würde, er ist fällig.«
Clooney zog den Kopf ins Haus zurück. Durch das offene Fenster war das Gemurmel eines kurzen Wortwechsels zu hören. Dann knarrten Bodendielen, und Türschlösser schnappten. Yeoman Clooney öffnete seine Haustür und nickte dem Wächter auf eine Vertrauen einflößende Weise zu. »Seine Lordschaft wird dich empfangen«, verkündete er in einem fanfarenartigen Heroldston, der Dart daran gemahnte, was für eine Ehre es war, einem Earl die Kopfhaut scheren zu dürfen, und wie unwürdig Dart ihrer war. Dart beugte sich vor, nahm seinen Beutel auf und hastete mit einem kurzen Antippen des Hutes für den Wächter und einem Diener vor Yeoman Clooney ins Haus.
Das Haus verfügte über ein vorderes Wohnzimmer, von dem aus man durch ebendas Fenster, durch das Clooney seinen Wortwechsel mit dem Wächter geführt hatte, auf die Parade hinausblicken konnte. Dort herrschte gutes Licht, und so breitete Dart dort sein Abdecktuch aus. Er stellte einen Stuhl mitten darauf.
Der Earl von Hollesley verbrachte seinen Lebensabend in diesem Haus, weil man ihm während des Spanischen Erbfolgekrieges staatliche Gelder anvertraut und er sie dazu verwendet hatte, sein Landhaus mit einem neuen Dach zu versehen, anstatt in Amsterdam Salpeter zu kaufen. Er war knapp sechzig, und soviel Dart wusste, bestand sein ganzes Leben darin, auf einem Stuhl zu sitzen und sich die Haare schneiden zu lassen. Andere Häftlinge schlenderten in der Liberty umher, brachten sich um oder inszenierten spektakuläre, von vornherein zum Scheitern verurteilte Fluchtversuche; der Earl von Hollesley verbrachte seine gesamte Zeit in Nr.4. Abgesehen von Dart alle vierzehn Tage empfing er selten Besucher. Wenn, dann waren es in der Regel katholische Priester, denn der Earl war in seiner Senilität zum Papisten geworden. Als er an Yeoman Clooneys Arm den Raum betrat, sagte Dart »Mylord« zu ihm, denn er war gehalten, nicht mehr zu sagen.
Yeoman Clooney hatte die einfache, aber unermesslich langweilige Aufgabe, rund um die Uhr ein Auge auf den Earl zu haben. Er nahm in einer Ecke Platz, während Dart den Lord auf den Stuhl bugsierte und in einen Umhang hüllte. »Sir«, sagte Dart in einer Art Bühnenflüstern zu dem Yeoman, »ich nehme mir die Freiheit, das Fenster zu schließen, denn es ist ein wenig windig, und ich möchte nicht, dass Haare in Eurer sauberen Wohnung umherfliegen.«
Clooney heuchelte ein paar Augenblicke lang Interesse an dem Fenster und dämmerte dann weg. Dart trat ans Fenster, blickte auf die Parade hinaus und fand den Blick von Tom dem Stiefelputzer auf sich gerichtet. Ehe er das Schiebefenster schloss, zog er seinen Lumpen aus der Tasche, hustete laut und vernehmlich hinein und spuckte dann auf den Boden.
Es verstand sich von selbst, dass der Earl von Hollesley eine Perücke trug. Aber er musste trotzdem gelegentlich geschoren werden. Er zog es vor, sich den Kopf kahlrasieren zu
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