Principia
Abwesenheit des Gelehrten. Vielleicht war er aber auch nur rasch nach Wolfenbüttel gefahren, um seine Bücher zu ordnen, oder nach Berlin gereist, um irgendein Gerangel an seiner Akademie zu schlichten.
Hannover war eine Stadt, und eine Stadt war vor allem ein Organismus zur Abwehr bewaffneter Angriffe. Die Leine, die Hannover im Süden und Osten flankierte, hatte von jeher einen gewissen Beitrag dazu geleistet zu verhindern, dass die Stadt geplündert und niedergebrannt wurde. Das erklärte, warum sich das Schloss direkt am Flussufer erhob. Doch die genaue Beschaffenheit der militärischen Aufgaben der Leine hatte sich von Jahrhundert zu Jahrhundert gewandelt, während die Artillerie besser geworden war und die Artilleristen Mathematik gelernt hatten.
Gleich nach Leibnizens Haus wandte sich Prinzessin Caroline nach links zum Fluss und begann so eine Art Reise durch die Zeit. Diese nahm ihren Anfang in einer malerischen, gewundenen Straße, die im Wesentlichen mittelalterlich anmutete, und endete eine Viertelstunde später an der Peripherie der Befestigungsanlagen der Stadt: einer Skulptur aus festgestampfter und geformter Erde, die ebenso sehr à la mode und ebenso sorgfältig gepflegt war wie die Frisur einer Dame im Grand Salon von Versailles. Die Leine fädelte sich so durch sie hindurch, wie es den Ingenieuren am vorteilhaftesten erschien. An manchen Stellen hatte man sie zu einer Rinne komprimiert wie Fleisch, das in einen Wurstdarm gepresst wird, an anderen durfte sie sich breitmachen und Gelände überfluten, das als verwundbar galt.
Festungsbauer wie Festungsbrecher spielten so etwas wie eine Schachpartie mit der Geometrie. Licht, das Informationen übermittelte, bewegte sich in geraden, und Musketenkugeln, die auf kurze Entfernung töteten, bewegten sich in annähernd geraden Linien. Kanonenkugeln, die Festungsmauern zerschmetterten, bewegten sich in eher flachen Parabeln, Mörsergeschosse, die Städte zerstörten, in hohen. Befestigungen wurden inzwischen aus Erde errichtet, die billig und reichlich vorhanden war und Geschosse aufhielt. Die Erde wurde aufgehäuft und zu Prismen – von sich schneidenden Flächen begrenzten Körpern – geformt. Jede Fläche offenbarte die Absicht, ihre Ränder zu beherrschen. Visierlinien und Flugbahnen von Musketenkugeln sollten an ihnen entlangstreichen und alles erfassen und töten, was sich in den Knicken zeigte. Man hoffte, dass Kanonenkugeln senkrecht darauftrafen und sich ihr eigenes Grab gruben, anstatt davon abzuprallen und hin und her zu hüpfen wie mörderische Dreijährige. Kavallerieställe, Infanteriebaracken, Pulverkammern und Verbindungsgänge waren an den Stellen in die Erde geschnitten, wo Kanonenkugeln kaum hinreichten. Die menschlichen Bestandteile waren ganz und gar den Erfordernissen der Geometrie unterworfen. Es handelte sich um eine Wüste aus Rampen und Flächen.
Dies alles war für eine Prinzessin, die ihre Geometrie auf dem Knie von Baron Gottfried Wilhelm von Leibniz gelernt hatte, sogar einigermaßen interessant. Aber da die Artillerie sich nur sehr allmählich verbesserte und die Kanoniere bereits die gesamte einschlägige Mathematik kannten, hatte sich die Anlage in den rund zehn Jahren, die Caroline fast jeden Tag hier gewesen war, kaum verändert. Zwischen den Befestigungen umherzureiten bot die Möglichkeit, zu grübeln oder Tagträumen nachzuhängen. Carolines Sinne ließen sich erst wieder auf die Welt ein, als sie über den zweiten von zwei Dämmen ritt, die durch eine überflutete Ödnis führten, welche dort angelegt worden war, um die Geschütze Ludwigs XIV. in gehörigem Abstand zu halten. Äußerstes Ende der Befestigungen war ein hölzernes Torhaus an der Stelle, wo die Bohlen des Dammes in Kies übergingen.
Von hier aus konnte Caroline einen geraden Reitweg entlang bis zu Sophies Orangerie blicken, die anderthalb Meilen entfernt in der Ecke des Parks von Herrenhausen lag. Die Allee kreuzten vier parallele Reihen von Zitronenbäumen, in fahle Mäntel von grünem Moos gehüllt. Diese Baumreihen markierten drei Wege, die nebeneinander zum königlichen Haus führten. Die Straße in der Mitte war breit, für Kutschen befahrbar und zum Himmel hin offen. Sie war auf ganzer Länge sichtbar; dort gab es keine Geheimnisse. Doch sie wurde zu beiden Seiten von schmaleren Pfaden markiert, die gerade Platz für zwei Arm in Arm dahinschlendernde Freunde boten. Die Äste der Bäume trafen über diesen Pfaden zusammen und überwölbten sie
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