Principia
den Arm und drehte den Handteller nach außen. Sein Handrücken glitt an seinem Gesäß nach oben über den schwarzen Gürtel, der seine Hose am Rutschen hinderte, und verhielt über seiner linken Niere. Er schloss die Hand um etwas Hartes: den Griff seines Dolches, der am unteren Ende seiner Wirbelsäule in einer schräg an seinem Gürtel befestigten Scheide zu Hause war. Eine Auswärtsbewegung seines Ellbogens zog ihn aus der Scheide. Johann führte ihn rasch um sich herum nach vorn, ehe die Rockschöße sich über die Klinge legen und Schaden nehmen konnten. Bei vielen Dolchen jüngeren Herstellungsdatum hätte sich diese Vorsichtsmaßnahme erübrigt, da sie zum Stechen, Parieren und Fingernägelschneiden gemacht waren und in punkto Schneide wenig bis gar nichts vorzuweisen hatten. Von dieser Sorte besaß auch Johann mehrere. Aber sie waren allesamt herrlich dekorativ und passten daher nicht zu der Trauerkleidung, die er an diesem Tag trug. Dasselbe galt für seine Sammlung von Schwertern, die im Vergleich mit der anderer Herren weder sonderlich groß noch klein war. Doch hinten in seinem Schrank hatte er noch dieses alte Gehenk, das er von einem Großonkel geerbt hatte. Es war vor wenigstens hundert Jahren in Italien angefertigt worden, als der Stil des Schwertkampfes und demzufolge auch der Waffenherstellung ein ganz anderer gewesen war. Das Rapier war riesig. Seine Klinge war gute acht Zoll länger als Johanns Arm und um einiges breiter, als es heutzutage üblich war, sodass es sich vom Gewicht her der Grenze einer einhändig zu führenden Waffe näherte. Die Schneide war, in Übung oder Gefecht, so oft eingekerbt und nachgeschliffen worden, dass die Klinge, wenn man daran entlangvisierte, nicht mehr gerade, sondern gewellt aussah.
Doch damit hatte sie dem Dolch nichts voraus, der eine geschlängelte Klinge aus damasziertem Stahl mit zwei erstaunlich scharfen Schneiden war. Dieser Stil war erforderlich geworden, nachdem sich einige italienische Schwertkämpfer – raffinierter, als es Johann je sein würde – den Kniff beigebracht hatten, mit einer Hand nach dem Dolch des Gegners zu greifen und diesen an der Klinge festzuhalten. Diese Taktik funktionierte tatsächlich, wenn der Griff fest und die Klinge des Dolches gerade war; sie bei einem Dolch anzuwenden, wie Johann ihn führte, war jedoch nicht sehr empfehlenswert. Jedenfalls war das Heft von Dolch wie Rapier vergleichsweise schlicht: eher Renaissance als Barock, und vom Rokoko Welten entfernt. Die Scheiden waren denkbar einfach, denn sie bestanden aus schlichtem, schmucklosem schwarzem Leder. Johann hatte sie sich am Morgen umgeschnallt. Gegen Mittag hatte er endlich aufgehört, mit der riesigen Scheide gegen Tischbeine und die Knöchel von Trauergästen zu stoßen. Nun benutzte er den Dolch, um Blumen zu ernten.
Das Licht kam inzwischen vorwiegend vom orangefarbenen westlichen Himmel und bestand nicht mehr aus direkter Sonneneinstrahlung. Das Bukett musste in diesem neuen Licht überprüft werden. Mit äußerster Vorsicht steckte Johann den geschlängelten Dolch in die Scheide, kehrte zur Venus zurück und widmete einige Minuten der Sichtung des Blumenhaufens, den er angesammelt hatte. Dann blickte er, mehr aus Gewohnheit denn aus Hoffnung, zum Schloss zurück. Doch er bemerkte, dass nun klares, orangefarbenes Himmelslicht auf der einen Seite in Carolines Wohnung hinein- und auf der anderen hinausschien. Die Spitzenvorhänge an den Fenstern waren zurückgezogen worden; sie war unterwegs. Panisch – denn er war plötzlich davon überzeugt, dass seine ganze Blumensuche vergeudete Zeit gewesen war – durchwühlte er seine Ernte und entnahm ihr einen großzügigen Armvoll von Blumen, die ihm gefielen. Den Rest ließ er als Opfer für die Liebesgöttin liegen; dann begann er sich in der komischen Gangart eines Menschen, der so schnell wie möglich eine Strecke zurücklegen will, ohne in Laufschritt zu verfallen, auf das Gehege des Teufelsbaums zuzubewegen. Denn in der dreieckigen Umzäunung, die den schlangenhaften Baum gefangen hielt, gab es nur eine Pforte, und die war ein ganzes Stück von hier entfernt. Unterdessen war bei den Stallungen des Schlosses eine Kutsche losgefahren, die in flottem Tempo den Gartenweg entlangkam. Gott helfe ihm, wenn er zu spät kam.
Ihm blieben noch einige Augenblicke, als er bei dem schmiedeeisernen Tor anlangte und in das Reich des Teufelsbaums schlüpfte, wo die Dämmerung schon eine Stunde weiter fortgeschritten zu
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