Principia
weniger wie eine Wasserstraße als wie eine Barriere gewirkt – eine Palisade aus abgeschliffenem Holz, errichtet, um eine Invasion oder eine Flucht zu verhindern. Aber mit wenigen Ruderschlägen des Fährmanns hatten sie die Wand entlang der Schiffslände durchdrungen und schossen hinaus in die Hauptfahrrinne. Sie war so bevölkert wie nur je ein Gewässer auf der Welt, doch im Vergleich zu den Straßen Londons wundersam offen und geräumig. Daniel fühlte sich wie von Lasten befreit, obwohl nichts von der Wahrheit weiter entfernt sein konnte. London wurde rasch zu einer schwelenden Membran, einer über einen Hügel gebreiteten und nicht glattgestrichenen, stinkenden Plane. Die einzigen hervorstechenden Merkmale waren das Monument für den großen Brand, die Brücke, der Tower und St. Paul’s. Wie immer wirkte die Brücke wie eine schlechte Idee, eine Stadt auf Stelzen, dazu noch eine sehr alte, zusammengesunkene, feuergefährdete Tudorstadt. Nicht weit von ihrem Nordende befand sich das Monument für den großen Brand, das Daniel nun zum ersten Mal deutlich zu Gesicht bekam. Es war eine riesige, freistehende Säule, von Hooke errichtet, aber allgemein Wren zugeschrieben. Im Zuge seiner jüngsten Gänge durch London hatte Daniel die Laterne auf ihrer Spitze mit leisem Erschrecken von Zeit zu Zeit über das Dach eines Gebäudes hinweg auf sich herabspähen sehen – wie es ihm als jüngerem Mann oft so vorgekommen war, als betrachte Hooke ihn durch ein Mikroskop.
Die Ebbe war eingetreten und trug sie in flottem Tempo flussabwärts. Ehe er sich’s versah, befanden sie sich auf Höhe des Tower. Mit einer gewissen Willensanstrengung wandte Daniel den Blick vom Traitor’s Gate ab, riss seine Gedanken von der Erinnerung an frühere Ereignisse los und konzentrierte sich auf gegenwärtige Angelegenheiten. Zwar konnte er nicht durch die Mauern und Bastionen des Tower sehen, wohl aber sah er ungefähr aus der Gegend der Münze Rauch aufsteigen; und er bildete sich ein, unter dem allgemeinen Lärm, der von der Stadt ausging, den langsamen, schweren Schlag der Aufwerfhämmer beim Prägen der Guineen zu hören. Auf den Zinnen sah man Soldaten mit schwarzem Besatz an ihren roten Röcken: daher die Queen’s Own Black Torrent Guards, die schon so viele Male im Tower in Garnison gelegt, wegbeordert, wieder dort in Garnison gelegt und abermals wegbeordert worden waren, dass Daniel es aufgegeben hatte, sich darüber auf dem Laufenden zu halten. Der Stationierungsort der Black Torrent Guards war ein unfehlbarer Wetterhahn, der – was Marlborough, den Gründer des Regiments betraf – anzeigte, woher der Wind wehte. Wenn sich das vereinigte Königreich im Krieg befand, standen die Black Torrent Guards an der Front. Befand man sich im Frieden und Marlborough war beim Souverän gut angeschrieben, waren sie in Whitehall. Verdächtigte man Marlborough, ein kommender Cromwell zu sein, wurde sein Regiment in den Tower verbannt und zu stumpfsinnigem Wachdienst bei Münze und Arsenal verdonnert.
Während sie flussabwärts trieben, wurden die Gebäude allmählich schäbiger und die Schiffe prächtiger. Nicht dass die Gebäude von vornherein so schäbig gewesen wären. Schon immer hatten Fahrwege an beiden Ufern entlanggeführt, doch nun konnte man sie nicht mehr sehen, weil zwischen ihnen und dem Fluss Lagerhäuser, zumeist aus gebrannten Ziegeln, errichtet worden waren, deren Mauern senkrecht ins Wasser abfielen, sodass Boote dicht an sie heranfahren und mittels Kränen, die wie die Fühler mikroskopisch kleiner Tierchen über das Wasser ragten, be- und entladen werden konnten. Aufgelockert wurden diese Lagerhauswände nur von kleinen, flachen Kais, die für diese oder jene Art von Ladung ausgelegt und über schmale Straßen aus festgestampfter Erde mit der Welt verbunden waren. Auf dem linken Ufer, dem von Wapping, führten diese Straßen in eine Stadt, die verblüffenderweise während Daniels Abwesenheit ins Dasein getreten war. Auf dem rechten Ufer, dem von Southwark, schwanden die Gebäude rasch zu einem bloßen Schirm entlang dem Fluss, mit offenem Land dahinter. Doch in es hineinschauen durfte Daniel nur, wenn das Boot vorübergehend auf Höhe einer südwärts führenden Straße schwamm. Solche Straßen wurden etwa eine Viertelmeile weit landeinwärts von Häusern gesäumt, sodass sie wie in die Stadt gehauene Schwertwunden anmuteten. Und das Land dahinter war nicht das übliche englische Ackerland (obschon es Weiden und
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