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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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handelte sich nicht um feinen Sonntagsstaat, sondern um derbe Arbeitskleidung aus Wolle, die überall mit verirrten Fasern und Sägemehl bestäubt war. Aus den schwieligen Händen des Mannes und seinem Umgang mit Tauwerk schloss Daniel, dass er ein Rigger war.
    Am Ufer über ihnen bildeten Räderfurchen und Plankenstraßen ein Miniatur-London aus Boulevards und Plätzen, nur dass Stapel und Haufen von Balken und Brettern, Tauschlingen, Kalfatwergballen und Pechfässer die Stelle von Gebäuden einnahmen. An einer Seite dieses Stapelplatzes verlief ein öffentlicher Weg, der die Ostgrenze von Orneys Werft markierte, ein kurzes Stück das Flach querte und dann eine Treppe zur Lavender Lane hinaufsprang, welche in diesem Teil von Rotherhithe die Uferstraße war.
    »Gott schütze Euch, Bruder«, sagte Daniel zu dem Rigger.
    »Und Euch auch – Sir«, gab der Rigger zurück und bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick.
    »Ich bin Dr. Waterhouse von der Royal Society«, bekannte Daniel, »für einen Sünder ein großspuriger Titel, der mir bei denen, die sich von den Freuden und Illusionen des Jahrmarkts der Eitelkeiten haben verführen lassen, niemals sonderlich viel Achtung und Ehre einbringt.« Er warf einen Blick über die Schulter auf London. »Ihr dürft mich so anreden, wenn Ihr wollt; doch Bruder Daniel genannt zu werden wäre eine höhere Ehre.«
    »Dann sei es Bruder Daniel, wenn Ihr mir Eurerseits den Gefallen erweist, mich Bruder Norman zu nennen.«
    »Bruder Norman, wie ich sehe, gebt Ihr den Männern um Euch herum, die von den falschen Verheißungen der Trägheit versucht werden, ein fortwährendes Beispiel an Fleiß. Aus alledem schließe ich -«
    »Oh, es gibt durchaus fleißige Arbeiter unter uns, Bruder Daniel, wie könnten wir sonst solche Arbeiten verrichten?«
    »Ich verstehe, was Ihr meint, Bruder Norman, und doch verschlimmert sich meine Verwirrung nur; denn ich habe noch nie eine so großartige Werft mit so wenigen Arbeitern gesehen; wo sind sie alle?«
    »Nun, Bruder Daniel, zu meinem Kummer muss ich Euch davon unterrichten, dass sie in der Hölle sind. Oder ihr so nahe, wie man auf Erden nur sein kann.«
    Zunächst tippte Daniel auf Gefängnis oder Schlachtfeld als Lösungen dieses Rätsels. Doch das war eher unwahrscheinlich. Er hatte sich schon fast auf Freudenhaus festgelegt, als er auf der anderen Seite der Lavender Lane Männer in Jubelschreie ausbrechen hörte.
    »Ein Theater? Nein! Eine Bärenhetze«, vermutete er.
    Bruder Norman schloss fromm die Augen und nickte.
    Der Ausbruch von Jubel war für mehrere Männer, die beim Essen gesessen hatten, das Signal, aufzustehen und die Werft zu verlassen. Sie erstiegen als dicht gedrängter Haufen die Treppe, in vorsichtiger Entfernung gefolgt von den beiden Russen, die Daniel vorhin bemerkt hatte. Außer Bruder Norman blieben in der gesamten Werft nur noch etwa ein halbes Dutzend Arbeiter zurück.
    »Donnerwetter«, rief Daniel aus, »pflegt Mr. Orney etwa mitten am Tage die Arbeit einstellen zu lassen, damit seine Arbeiter davonlaufen können, um einem blutigen, nichtswürdigen Schauspiel beizuwohnen? Es ist ein Wunder, dass hier überhaupt etwas zustande kommt.«
    »Ich bin Mr. Orney«, sagte Bruder Norman freundlich.
    Vierzig Jahre zuvor hätte sich Daniel vor lauter Demütigung in den Fluss geworfen. Im Lichte der Ereignisse der letzten Monate wusste er, dass er den Vorfall überleben konnte, ob es ihm gefiel oder nicht. Am besten war es, einfach stur weiterzumachen. Mehr Sorgen bereitete ihm der Fährmann, der ihn hergebracht hatte. Dieser hatte der Unterhaltung genau zugehört und erweckte nun den Eindruck, als würde er gleich rückwärts von der Pier fallen.
    »Ich bitte um Verzeihung, Bruder Norman«, sagte Daniel.
    »Keine Ursache, Bruder Daniel, denn wie sollen wir Gott näherkommen, wenn wir kein offenes Ohr für die Kritik unserer gottesfürchtigen Brüder haben?«
    »Wohl wahr, Bruder Norman.«
    »Vielleicht würdet Ihr niemals erfahren, o Sohn des Drake, was für eine lächerliche Figur Ihr in Eurer stutzerhaften Perücke und Eurer unzüchtigen Kleidung abgebt, wenn ich Euch nicht liebevoll darauf aufmerksam machen würde.«
    Erneuter Jubel von jenseits der Lavender Lane erinnerte Daniel daran, dass sich die nicht reuigen Sünder wie üblich besser amüsierten.
    »Ich habe die Arbeiter mit meinen Ansichten zu derartigen Lustbarkeiten vertraut gemacht«, fuhr Bruder Norman fort. »Mehrere unserer Brüder sind jetzt dort und

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