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Principia

Principia

Titel: Principia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Neal Stephenson
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Gittern und Bohrlöchern aus schwarzem Eisen versehen sind. An ihrem Schließbandsystem hängen verschiedene alte, handgefertigte Vorhängeschlösser wie Medaillen an der Brust eines Kobold-Generals. Daniel hat einen Schlüssel, der nur in eins von ihnen passt, und sonst ist niemand hier. Er friert. Die bittere Kälte in dieser Einöde hat schon Männer dahingerafft, die halb so alt waren wie Ihr und doppelt so viel wogen . Der Kreuzgang hält die östliche Sonne von ihm fern, schützt ihn aber überhaupt nicht vor dem Wind, der von Nordwesten kommend in den Kreuzgang pfeift und ihn fast an diese Tür drückt. Deshalb geht er denselben Weg ein paar Schritte zurück und dann durch eine Tür, die zufällig offen steht. So gelangt er in einen Gang, der zwar windgeschützt, aber kalt und dunkel ist. Da am anderen Ende Licht winkt und er Wärme auf dem Gesicht spürt, geht er noch ein paar Schritte weiter und wird dadurch belohnt, aber auch überrascht, dass er sich allein im schönsten Raum von ganz Großbritannien befindet.
    Jeder andere Brite hätte schon vorher gewusst, dass dies der Kapitelsaal war. Doch aufgrund seiner revolutionären Erziehung war dies der letzte Ort auf der Insel, von dem man hätte annehmen können, dass Daniel ihn je betreten würde – bis zu diesem Tag. Es ist ein großes Achteck, dessen Wände ganz und gar aus buntem Glas zu bestehen scheinen – vom Baulichen her eine Unmöglichkeit, wenn man bedenkt, dass das Gewölbe darüber aus tonnenschwerem Stein besteht. Gehalten wird es, überlegt er, von Säulen in den acht Ecken und einer neunten in der Mitte des Raumes, die so hoch und schlank ist, dass sie eigentlich zusammenbrechen müsste. Sie steht aber schon seit ungefähr vierhundert Jahren da, und nur die verbissensten und misstrauischsten Empiriker würden sie mit einem so abgestumpften Blick betrachten. Das Ganze wird nicht über ihm zusammenbrechen. Diese Fenster fangen das Licht ein und erwärmen den Raum. Daniel fällt in eine Umlaufbahn um die Säule in der Mitte. Manches aus seiner Schulzeit kommt ihm wieder in den Sinn, und er erinnert sich, dass hier der Kronrat tagte und später das Parlament zusammenkam, bis die Mönche seines Geschreis überdrüssig wurden und es hinauswarfen, worauf es gegenüber im Westminster Palace ein neues Domizil fand. Anhand des Widerhalls, den schon die Tritte und Schnaufer eines alten Mannes in dem Raum hervorrufen, kann Daniel sich vorstellen, wie laut es hier gewesen sein muss, als der Kapitelsaal mit Politikern gefüllt war.
    Während der ersten paar Umrundungen erregen die prachtvollen Fenster seine Aufmerksamkeit, doch später wird sein Blick von den Holztäfelungen auf Kopfhöhe angezogen. Diese sind mit Szenen bemalt, die Daniel, fast ohne sie anschauen zu müssen, als die Offenbarung dieses unheimlichen Verrückten Johannes erkennt. Die vier Reiter auf ihren farblich gekennzeichneten Pferden, das große Tier, das wider die verängstigten Heiligen lästert, irregeleitete Menschen, die anstehen, um sich das Malzeichen des Tieres geben zu lassen. Die Hure, die sich am Blut der erschlagenen Heiligen labt und später dafür verbrannt wird. Christus, der auf einem weißen Pferd die himmlischen Heerscharen anführt. Vieles davon ist so verblasst, dass es nur von jemandem wie Daniel erkannt werden kann, der es als Kind so gut auswendig lernen musste, dass er wie ein Schauspieler, der hinter der Bühne auf seinen Auftritt wartet, imstande wäre, den Text zu verfolgen und auf sein Stichwort zu reagieren, wenn das Ganze tatsächlich passieren würde. In den weniger gut erhaltenen Massenszenen treten aus der verblassten und abblätternden Pigmentierung nur die Augen hervor: manche schläfrig, manche aufgerissen, manche auf der Suche nach irdischen Vorteilen, andere ganz auf die fernen Taten von Engeln gerichtet, wieder andere in Betrachtung darüber versunken, was das alles zu bedeuten hat. Daniel kann nicht umhin, in all dem eine letzte Botschaft von Drake zu sehen. Eine Erinnerung, dass Isaac auch nach angestrengtem Studium weder Tag noch Stunde kennt, wann die Posaune zum Jüngsten Gericht rufen wird, und dass Daniel trotz Drakes systematischer Vorbereitungen unter dessen Fittichen hervortreten und die ihm zugedachte Rolle übernehmen muss.
    Schritte und ein munteres Hallogeschrei kommen auf ihn zu, in seinen Ohren schrecklichere Geräusche als das Hufgetrappel der Vier Reiter, denn sie bedeuten, dass er höflich zu Leuten wird sein müssen, die er kaum

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