Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pringle vermisst eine Leiche

Pringle vermisst eine Leiche

Titel: Pringle vermisst eine Leiche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Livingston
Vom Netzwerk:
öffnete, stand sie mit einem Tablett vor ihm. Sie
deutete auf die beiden Gläser mit Brandy.
    «Hier, nehmen Sie — als
Medizin. Mehr bekommen sie heute nicht.»
    «Danke.»
    «Ich habe noch eine zweite
Tasse mitgebracht, falls Sie doch Tee möchten.»
    Sie schwiegen eine Weile. Dann
sagte sie: «Das Dorf steht Kopf. Von beiden Ereignissen sind je
unterschiedliche Versionen im Umlauf. Was die Beinahe-Vergewaltigung betrifft,
so sind Sie der Tatverdächtige Nummer eins. Sie gelten nicht als Einheimischer,
und in Wuffinge sieht man es lieber, wenn die schwereren Verbrechen von Fremden
begangen werden.»
    «Dann hat Wuffinge diesmal wohl
Pech gehabt», sagte Mr. Pringle sarkastisch. «Derjenige, der Mrs. Leveret
erdrosselt hat, stammt meiner Meinung nach mit ziemlicher Sicherheit aus dem
Ort.»
    «Erdrosselt?»
    «Ja, so sah es aus. Sie lag mit
dem Gesicht nach unten. Als ich sie auf den Rücken drehte, sah ich, daß sie
eine Schnur um den Hals hatte.» Daß Mrs. Leveret völlig durchnäßt gewesen war,
behielt er für sich. Felicity überlief ein Schauer.
    «Alle haben zuerst gesagt,
Doris würde sicherlich wieder auftauchen — lebendig, meine ich. Gegen vier Uhr
kamen dann die ersten Zweifel auf, denn inzwischen waren alle anderen Vom
Blumenpflücken zurück.»
    «Ist Ihnen am Nachmittag in der
Kirche irgend etwas Ungewöhnliches aufgefallen, oder hat irgend jemand etwas
gesagt, was Ihnen jetzt im nachhinein merkwürdig erscheint?»
    «Nicht daß ich wüßte, aber ich
habe mich auch ganz auf meine Arbeit konzentriert. Joyce hat uns ziemlich
angetrieben — wir waren ja auch eine weniger als gedacht.»
    «Ja, natürlich.»
    «Michelle fiel auch praktisch
aus. Kaum hatte sie von dem Angriff auf Mrs. Kenny gehört, flippte sie völlig
aus, weil sie gerade mehr als eine Stunde mit Ihnen allein in ihrem Haus
gewesen sei. ‹Wenn ich denke, was mit mir hätte passieren können›, wiederholte
sie dauernd. ‹Wenn er mich vergewaltigt hätte!›»
    «Wenn Sie sie das nächste Mal
sehen, dann bestellen Sie ihr doch bitte einen Gruß von mir und sagen ihr, daß
sie ganz unbesorgt sein könne — sie hätte keinerlei Leidenschaften in mir
geweckt.» Felicity gelang ein kleines Lächeln.
    «Irgendwann konnten wir dann
ihr Gerede einfach nicht mehr ertragen. Joyce sagte ihr schließlich, sie solle
doch vielleicht lieber zu ihrer angebeteten Miranda gehen. Das hat sie dann
auch getan. Kurz darauf kam die Polizei. Ich war gerade mit meiner Arbeit
fertig. Sie fragten, ob irgend jemand Doris heute schon gesehen hätte, und da
wurde uns auf einmal allen klar, wie ernst die Sache war. Sie wollten uns
nichts sagen, aber bestätigten, daß Miranda gestern nacht angegriffen worden
sei. Ich nehme an, daß Mirandas Angreifer und der Mann, der Doris Leveret
umgebracht hat, ein und dieselbe Person sind, oder?»
    Mr. Pringle hob ratlos die
Hände. «Das kann ich nicht sagen. Ich fürchte, daß der Major irgend etwas mit
dem ganzen zu tun hat. Ich weiß zwar nicht, wie und warum, aber...»
    «Aber der Major ist tot», rief
sie schockiert.
    «Aber ja, das bestreite ich
doch gar nicht», sagte Mr. Pringle, «nur ist er leider am falschen Ort
gestorben.»
    «Das alles kommt mir vor wie
ein böser Traum», sagte sie müde.
    «Jetzt habe ich Sie durch meine
Überlegungen noch zusätzlich belastet», sagte er zerknirscht. «Das wollte ich
nicht.»
    «Ach nein, da brauchen Sie sich
keine Vorwürfe zu machen. Sie sind ja schließlich weder der Angreifer von
Miranda noch der Mörder von Doris Leveret. Es ist nur — ich hätte das alles
gestern nicht für möglich gehalten. Nicht hier in Wuffinge. Dies ist ein so
friedlicher und stiller Ort — hier ist noch nie etwas Derartiges passiert.»
    Mr. Pringle fiel es schwer,
dazu zu schweigen. Er dachte an all das Blutvergießen und den Verrat, den auch
Wuffinge im Laufe seiner Geschichte gesehen hatte: Zwischen Protestanten und
Katholiken, Landbesitzern und hungernden Bauern und nicht zuletzt zwischen Mann
und Frau. Kein Jahrhundert war ins Land gegangen ohne Täuschung und
Brandmarkung, Hängen und Verbrennen und Hexenprozessen der einen oder anderen
Art. Nein, friedlich und still war es auch in Wuffinge nie gewesen — oder doch
nur immer vorübergehend. Das Jahr 1990 hatte auch nicht mehr als den ihm
zustehenden Anteil an der allgemeinen Gewalttätigkeit, dachte Mr. Pringle. Und
war das ein Wunder? Wenn er zurückdachte, so war das hinter ihm liegende
Jahrzehnt wie kein anderes zuvor geprägt gewesen

Weitere Kostenlose Bücher