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Prinz-Albrecht-Straße

Prinz-Albrecht-Straße

Titel: Prinz-Albrecht-Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Stahmer durch die rußigen Straßen der Stadt mit den hunderttausend Einwohnern, die ganz nahe an der polnischen Grenze lag. Die meisten Lichter waren schon gelöscht, das Leben bot nicht mehr Abwechslung als in gleich großen anderen deutschen Städten. Jeder kannte hier das Gelände des Reichssenders Gleiwitz. Diesen hochtrabenden Namen wenigstens führte die Sendestation, die nicht mehr war als ein gleichgeschaltetes Lokalstudio.
    Das Programm kam aus Berlin: Siedehitze nebst Polenhetze. Grenzzwischenfälle. Die Gleiwitzer nahmen die Nachrichten nicht allzu ernst. Sie kannten die Polen besser, ob sie sie nun mochten oder nicht. Narren müßten die von drüben sein, wenn sie es wagen würden, über die Grenze zu kommen! Propaganda, dachte man in Gleiwitz, das auf Bestellung zum Sarajewo des Zweiten Weltkrieges werden sollte.
    Der Agent ging vorsichtig um das Gelände der Sendestation herum. Vier Minuten lang muß ich das Haus besetzen, überlegte er. Eine Proklamation in Polnisch. Schüsse. Detonationen. Flucht.
    Hitler hatte einen Zwischenfall dieser Art beim Reichssicherheitshauptamt in Auftrag gegeben. Heydrich, der nie versagte, wenn es sich um Mord und Vernichtung handelte, arbeitete den Plan aus. Und Werner Stahmer, der es nicht wagte, sich dem Satan entgegenzustellen, würde den Überfall ausführen.
    Mit oder ohne Skrupel. Es kam aufs gleiche hinaus.
    Die Gedanken des Agenten eilten nach Berlin. Zu Margot. Sie wußte nicht, wo er war. Er sagte ihr nicht, was er tat. Weder diesmal noch sonst. Er sah ihre traurigen Augen vor sich, erlebte zum zweitenmal, wie sie tapfer dagegen ankämpfte, ihm Vorwürfe zu machen. Er haßte sich, weil er Margot liebte, weil er zu schwach war, sich von ihr zu lösen.
    So stapfte er weiter durch die Nacht, zurück zum Hotel, das man für ihn ausgesucht hatte. Sobald das Stichwort fiel, hatte es loszugehen. Die Parole hieß: Konserve.
    Und damit waren die Menschen gemeint, deren Leben man konservierte, um sie rechtzeitig als Leichen vorweisen zu können.

56
    Das Geheul, das über den verstaubten Appellplatz winselte, war nicht tierisch, sondern viel schlimmer: menschlich. Ein Mann lag auf dem Bock und zählte die Schläge. Die Peitsche hatte seine Haut in Fetzen gerissen. Nach jedem Hieb sprühten kleine Blutstropfen gegen die Umstehenden.
    »Du Sau«, schrie der Oberscharführer.
    »Dreizehn«, röchelte die Stimme weiter, »vierzehn … fünfzehn.«
    Dann zuckte nur noch der Körper. Die Peitsche hatte den Häftling bewußtlos geschlagen … Narkose à la Dachau.
    Hunderte von Häftlingen waren angetreten und sahen zu. Ihre Pupillen waren wie mit Firnis überzogen, ihre Ohren wie mit Wachs ausgegossen. Ich nicht … ich nicht … ich nicht, hämmerten die Herzen.
    Der Bock war aus Holz, die Schläger trugen SS-Uniformen. Die Totenköpfe auf ihren Schirmmützen waren wie Symbole der Menschenköpfe, die sie zertrampelten. Aus Lust oder aus Langeweile, auf Befehl oder auch nur, weil sie sich den Magen überladen hatten.
    Die hundert ausgesuchten Häftlinge am Rande des Lagers zählten die Schläge mit. Die Sonderbehandlung, die ihnen der Besuch des Gestapo-Chefs Müller verschafft hatte, ließ sie wieder aufleben und mitfühlen. Ein Wunder. Wunder im KZ waren bescheiden. Sie bestanden aus Essen, aus Freizeit, aus Tagen ohne Schläge. Selbst Herbert Rosenstein, dem das Lager die letzten Illusionen über seine Folterknechte genommen hatte, konnte sich nicht erklären, was das zu bedeuten hatte.
    Es begann damit, daß die Bewacher nicht mehr auf den Bettenbau achteten. Der Morgenappell war läßlich bis nachlässig, die SS-Leute prüften nur die Vollzähligkeit. Hundert Männer hatten es zu sein, hundert ›Konserven‹, hundert wohlgenährte Tote mußten sie liefern.
    Der Rapportführer ging mit schnellen Schritten durch das Lager. Er betrat die Baracke, an deren Tisch die Häftlinge saßen und Schnitzel aßen, soviel sie schafften.
    »Na, ihr Hunde«, sagte er gutgelaunt, »schmeckt's?«
    Sie sprangen so heftig von ihren Sitzen, daß die Schüsseln umfielen; darauf stand Bau oder Bock. Aber der Rapportführer lächelte bloß.
    Hans Mersmann handelte spontan. »Herr Hauptscharführer«, fragte er, »was wird aus uns?«
    Die anderen zuckten zusammen. Eine direkte Frage konnte der Tod sein. Aber der uniformierte Peiniger lächelte immer noch. »Na, ratet mal, Kinder.« Er blickte an der Reihe entlang, sah, daß die Häftlinge immer noch stramm standen. »Steht doch nicht 'rum wie

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