Prinz Charming
nicht vollends die Fassung verlieren und in lautes Schluchzen ausbrechen. Das wäre zu erniedri-gend gewesen. Lady Esther, die immer so großen Wert auf Disziplin gelegt hatte, wäre entsetzt über ihre Enkelin.
Vorsichtig schlug sie die Decke zurück und wollte die Beine über den Bettrand schwingen, aber da schlang Lucas blitzschnell seine Arme um ihre Taille und drückte ihren Rücken an seine Brust, sein Kinn auf ihren Scheitel. »Taylor?« Sie gab keine Antwort, doch er ließ sich nicht beirren. »Du wolltest, daß ich mit dir schlafe«, fügte er hinzu, »aber aus den falschen Gründen.« Als sie sich loszureißen versuchte, hielt er sie eisern fest. »Du hast mich begehrt, nicht wahr?«
»Ja«, gestand sie leise.
»Morgen früh würdest du’s bereuen.«
»Vielleicht.« Doch das bezweifelte sie. In dieser Nacht sehnte sie sich nach ihm, mit einer Intensität, die sie nie zuvor gekannt hatte. Dieses Gefühl erschreckte sie, denn sie wollte ihre Empfindungen und Reaktionen stets unter Kontrolle halten. In dieser Hinsicht war sie eine gelehrige Schülerin ihrer älteren Schwester gewesen. Marian hatte sie nicht nur vor Onkel Malcolms Gelüsten bewahrt, sondern ihr auch beigebracht, immer alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, körperlich und seelisch, daß sie einem Mann niemals zum Opfer fallen würde.
Und dann war Lucas Ross in ihr Leben getreten. Wie sollte sie sich vor ihm schützen? Einige Jahre hatte sie gut überstanden und sich sogar mit William Merritt verlobt, ohne ihm ihr Herz zu schenken. Sein Betrug hatte sie tief verletzt, aber eher wegen des Skandals und der Demütigung. Den Verlust dieses Mannes verschmerzte sie mühelos. Sie war nicht einmal überrascht gewesen, denn William hatte nur ihre Erwartungen erfüllt.
Aber Lucas entstammte einer anderen Welt und unterschied sich von allen Männern, die sie kannte. Er war freundlich, fürsorglich und rücksichtsvoll. Nach und nach durchbrach er alle Panzer, die ihre Seele umgaben. Und das gelang ihm, ohne sich anzustrengen. Wenn sie nicht auf der Hut war, würde er bald ihr Herz stehlen.
»Taylor?«
»Ja?« wisperte sie.
»Wenn ich mit dir schlafe, sollst du nur an mich denken.« Er rieb sein Kinn an ihrem Scheitel. »Aber heute nacht bist du in Gedanken bei deiner Großmutter. Und das ist völlig in Ordnung. Du darfst deine Trauer nicht verdrängen.«
»Aber sie nahm mir das Versprechen ab, nicht in meinem Schmerz zu versinken«, erklärte sie, drehte sich in seinen Armen um und legte das Gesicht auf seine Brust. »Sie sagte, ich solle keine schwarzen Kleider tragen und in die Zukunft blicken, nicht in die Vergangenheit.«
Unwillkürlich begann sie zu schluchzen, und Lucas streichelte ihren Rücken. »Was hat sie dir sonst noch aufgetragen?«
»Daß ich mich an sie erinnern - und den Babys nette Geschichten über sie erzählen soll.« Unaufhaltsam flossen die Tränen.
Wahrscheinlich meint sie die Kinder, die sie irgendwann einmal zur Welt bringen will, dachte er. »Glaub mir, sie wird niemals in Vergessenheit geraten.« Er spürte, wie sie gegen ihr Schluchzen ankämpfte. »Wein dich nur aus. Das tut dir gut.«
Da war sie anderer Ansicht, doch das konnte sie nicht aussprechen, denn die Stimme versagte ihr den Dienst. Die Tränenflut ließ sich nicht bezwingen. Dann bekam sie auch noch einen Schluckauf und gab schreckliche, undamenhafte Geräusche von sich.
Doch das schien Lucas nicht zu stören. Er stieg aus dem Bett, um ihr ein Taschentuch zu bringen, legte sich wieder zu ihr und nahm sie in die Arme. Angesichts seiner Zärtlichkeit mußte Taylor noch heftiger schluchzen. Nach einer Weile versuchte er sie zu beschwichtigen. »Ganz ruhig, mein Liebes, alles wird wieder gut.«
Nein, nichts wird wieder gut, dachte sie todunglücklich. Nie wieder kommt Großmutter zurück. Nun war Taylor ganz allein und voll verantwortlich für zweijährige Zwillinge. Und Lucas Ross hatte nicht die geringste Ahnung, was gut sein mochte und was nicht.
Viel zu erschöpft, um mit ihm zu streiten, weinte sie sich in den Schlaf. Sie schmiegte sich an ihren Mann, der ihr Sicherheit und Geborgenheit schenkte. Und ehe sich ihre Gedanken verwirrten, gelobte sie sich: Niemals werde ich ihn loslassen.
9
Schicksal, du weißt, schlägst stark du zu, trotzt dir ein starker Geist.
William Shakespeare, Antonius und Kleopatra
Sie verschlief, und um halb neun beschloß Victoria, nach ihrer Freundin zu sehen. Sie machte sich Sorgen. Als Lucas ihr die Tür
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