Prinz Charming
schon dort! Gleich nach dem Lunch gehe ich in mein Zimmer und stelle die Liste auf. Begleitest du mich in den Speisesaal für Damen? Ich könnte etwas Zwieback vertragen, um meinen Magen zu besänftigen. Die Übelkeit, die andere schwangere Frauen am Morgen befällt, scheint mich erst mittags zu peinigen.«
Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile im Speisesaal sitzen, und Taylor erklärte ihrer Freundin, auf welcher Route sie ihr Ziel erreichen würden. Erstaunt hörte Victoria, daß sie einen Teil der Strecke an Bord eines Flußdampfers zurücklegen würden, auf dem Missouri.
»Bei unserem Einkaufsbummel dürfen wir nicht vergessen, Landkarten zu besorgen«, bemerkte Taylor.
»Würdest du mir eine Frage beantworten? Weiß dein Großonkel Andrew ... Er ist der jüngere Bruder deiner Großmutter, nicht wahr?«
»Ja.«
»Weiß er, daß du die Babys ganz allein aufziehen möchtest?«
Taylor zuckte die Achseln. »Da bin ich mir nicht sicher. Er ist sehr vergeßlich.«
»Würde er sogar seine Großnichten vergessen?«
»Vielleicht. Meistens lebt er in einer Traumwelt. Wie du weißt, schwärmte er ebenso wie ich für die amerikanische Wildnis. Ich behauptete, eines Tages würde ich dort leben, und er entgegnete, er wisse nicht, ob ich mutig genug wäre.«
»Und deshalb ließ er die Lehmhütte bauen?«
Taylor nickte. »Wir lasen, daß viele Siedler in solchen Hütten lebten, und so beauftragte er seine Dienstboten, eine für mich zu bauen. Sie stand mitten auf dem Rasen vor seinem Haus. Zunächst hatte ich gewissen Zweifel, aber er ließ nicht locker, bis ich einzog. Und dann blieb ich fast einen ganzen Monat drin. Am Anfang war es schrecklich. Wenn es regnete, tropfte Schlamm auf mich herab ...«
»War denn das Dach auch aus Lehm?« fiel Victoria ihrer Freundin ins Wort.
»O ja. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, der sich auch in Schlamm verwandelte, sobald es regnete. Es gab nur ein einziges Fenster, unverglast, ohne Laden. Alle Insekten konnten hereinfliegen.«
»Das klingt ja grauenvoll. Glaubst du, wir müssen auch in so einer Lehmhütte wohnen?«
»Nur wenn’s gar nicht anders geht«, versprach Taylor. »Aber wenn uns nichts anderes übrigbleibt, werden wir’s schaffen. Ich habe gelernt, wie man sich in einer Lehmhütte häuslich einrichten kann. Nach einer Weile fand ich meine unzivilisierte Behausung gar nicht mehr so schlimm. Ende Juni hatte sich das Dach in einen Garten verwandelt. Da blühten schöne rosa, lila und rote Blumen. Wie Efeuranken hingen sie seitlich herab. Aus der Ferne betrachtet, bot die Hütte einen wunderschönen Anblick. Und drinnen kam ich mir vor wie in einem Blumentopf.«
»Hoffentlich haben wir eines Tages Holzböden und ein richtiges Dach. Aber ich werde mich nicht beklagen, wenn wir in einem Blumentopf leben müssen, das verspreche ich dir.«
»Du brauchst gar nichts zu sagen. Sicher werde ich genug jammern - für uns beide.«
Eine Zeitlang schmiedeten sie noch Pläne, dann kehrten sie in ihre Zimmer zurück. Victoria konnte es kaum erwarten, ihre Einkaufsliste aufzustellen. Und Taylor schrieb den Brief an Sherman, der ihre Anweisungen enthielt. Alles mußte geregelt werden, bevor sie in die Wildnis aufbrach.
Sie Unterzeichnete das Schreiben, dann griff sie nach einem zweiten Blatt Papier. Dieses Dokument mußte so klar und präzise wie nur möglich formuliert werden, damit es vor Gericht nicht angefochten werden konnte. Nichts durfte unklar oder zweideutig wirken.
Sie seufzte tief auf. Die Aufgabe, die sie nun erfüllen mußte, behagte ihr nicht im mindesten. Ihre Gedanken begannen abzuschweifen, und sie erinnerte sich an einen luxuriösen Ball, den sie in London besucht hatte. Beinahe brach sie in Gelächter aus. Welch eine seltsame Richtung nahm ihr Lebensweg ... Wieder holte sie tief Atem, dann zwang sie sich, ihren Tagtraum und die Vergangenheit zu vergessen. Sie tauchte ihre Feder ins Tintenfaß und begann ihr Testament abzufassen.
10
Wo bis zum Gipfel klimmen sichrer Fall ist, der Gipfel selbst so schlüpfrig, daß die Furcht so schlimm ist wie der Fall.
William Shakespeare, Cymbeline
Lucas schlief ein, während er auf Taylor wartete. Zunächst hatte er sie aus Victorias Zimmer holen wollen und sich dann anders besonnen. Wie spät es war, wußte sie selber. Und wenn sie die halbe Nacht aufbleiben und mit ihrer Freundin reden wollte, brauchte er sich nicht darum zu kümmern.
Aber es irritierte ihn. Sie brauchte ihren Schlaf, und er wollte sie im
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