Prinz Charming
Lucas beobachtet, wie fachkundig sie mit ihrem Colt umgegangen war. In einer knappen halben Minute hatte sie ihn geladen, obwohl ihre Hände zitterten. »Weißt du überhaupt, wen du erschießen willst?« fragte er.
»Ja.«
»Das hast du bei deinem Onkel Andrew gelernt, nicht wahr? Es war wohl kein Witz, als du sagtest, er habe dir nicht nur Klavier spielen, sondern auch Schießen beigebracht.«
»Nein, das war kein Witz. Er sammelt Waffen, nimmt sie auseinander und setzt sie wieder zusammen. Mit sechsschüssigen Revolvern kann ich mich nicht anfreunden, aber ...«
Lucas unterbrach sie. »Gib mir die Waffe, Taylor. Du wirst dich selber umbringen.«
»Würdest du den Kutscher veranlassen, etwas schneller zu fahren?«
Er steckte seinen Kopf aus dem Fenster, erteilte den gewünschten Befehl, dann lehnte er sich wieder zurück. Wenn er auch völlig entspannt wirkte, konnte er Taylor nicht täuschen. Seine Augen verrieten ebenso wie seine Stimme, wie wütend er war. »Ich nehme an, du hast dich heute abend nicht in Victorias Zimmer aufgehalten, sondern in Fort Hill?« fragte er.
»Ja.«
»Wer hat dich begleitet?«
»Ich bin allein hingefahren.«
Obwohl er die Antwort schon vorher erraten hatte, wuchs sein Zorn. Gegen seinen Willen stellte er sich vor, wie Taylor durch diesen Stadtteil spaziert war, wo an jeder Ecke Gefahren lauerten. Lieber hätte er sich ausgemalt, sie wäre in Sodom und Gomorra gewesen. »Ist dir klar, welches Risiko du eingegangen bist?«
Er hatte die Stimme nicht erhoben. Das paßte nicht zu ihm. Aber sein messerscharfer Tön übte die gleiche Wirkung aus wie ein ohrenbetäubender Schrei. Beinahe wäre Taylor zusammengezuckt, doch sie beherrschte sich gerade noch rechtzeitig.
»Würdest du mir endlich erklären, was das alles zu bedeuten hat?« fügte er hinzu.
Sie wußte nicht, wo sie anfangen und wieviel sie erzählen sollte. Immer noch von qualvoller Angst erfüllt, konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. »Ich wollte die Kinder meiner Schwester besuchen, die vor achtzehn Monaten gestorben ist. Jahrelang hatte Marian an ihrer Schwindsucht gelitten. Und ein plötzlicher Kälteeinbruch in Boston ...«
»Ja?« fragte Lucas, als sie bedrückt schwieg.
»Sie war ziemlich anfällig. Einen Monat, nachdem sie sich erkältet hatte, starb sie. George, ihr Mann, kümmerte sich um seine beiden Töchter - bis die Cholera ausbrach. Wahrscheinlich fiel er dieser Krankheit zum Opfer, aber das steht nicht fest. Mrs. Bartlesmith schrieb meiner Großmutter und mir, um uns über seinen Tod zu informieren.«
»Und wer ist Mrs. Bartlesmith?«
»Die Kinderfrau meiner Nichten. Sie versprach, bei ihnen zu bleiben, bis ich nach Boston kommen würde. Heute suchte ich die Adresse auf, die sie angegeben hatte, doch ich traf Mrs. Bartlesmith nicht an. Die Frau, die mir die Tür öffnete, war sehr hilfsbereit. Aber sie konnte mir nicht sagen, wo ich die Babys und ihre Betreuerin finden würde. Sie bot mir eine Tasse Tee an und wühlte eine gute Stunde lang in ihren Papieren, bis sie die Anschrift eines Ehepaars namens Henry und Pearl Westley fand. Die beiden hatten für meinen Schwager gearbeitet, sie als Köchin, er als Handlanger. Als die neuen Mieter einzogen, hofften die Westleys, sie könnten ihre Stellung behalten. Aber die Frau wollte nichts mit ihnen zu tun haben, weil beide nach Whiskey rochen. Und so erklärte sie ihnen, ihre Dienste würden nicht mehr gebraucht. Pearl Westley hinterließ ihre Adresse, für den Fall, daß die Frau sich doch noch anders besinnen würde.«
»Also bist du zu den Westleys gefahren, um die Kinder zu suchen?«
Taylor nickte. »Natürlich nahm ich nicht an, daß ich meine Nichten dort finden würde. Aber ich hoffte, die Westleys wüßten vielleicht, wohin Mrs. Bartlesmith sie gebracht hat. Fort Hill liegt am anderen Ende der Stadt. Als ich dort ankam, war es schon dunkel. Zum Glück ließ der Droschkenkutscher mich nicht im Stich und sagte nur, ich solle mich beeilen, er würde auf mich warten. Henry Westley öffnete
mir die Haustür und erzählte, Mrs. Bartlesmith sei gestorben. Wann und auf welche Weise wollte er nicht verraten. Seine Frau versteckte sich in einem anderen Zimmer und rief ihrem Mann unentwegt zu, er solle mich hinauswerfen. Da sie ganz furchtbar lallte, mußte sie genauso betrunken gewesen sein wie ihr Mann. Ihre Stimme klang ängstlich, aber er fürchtete sich kein bißchen. Unverschämt starrte er mich an und versicherte seiner Frau, ich könne
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