Prinz Charming
ohnehin nichts tun, es sei zu spät.«
»Hast du das Haus betreten?«
»Nein, ich blieb auf der Veranda stehen.«
»Wenigstens warst du vernünftig genug, nicht hineinzugehen.«
»Henry und Pearl taten so, als hätten sie nie von den Babys gehört. Natürlich logen sie das Blaue vom Himmel herunter.«
»Hast du jemand anderen im Haus gesehen? Oder ist dir ein verdächtiges Geräusch aufgefallen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht war jemand im Oberstock, aber ich konnte nichts sehen oder hören.« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie haßte sich selbst, weil sie vor ihrem Mann Schwäche zeigte. Doch sie konnte sich nicht beherrschen. Lucas wollte sein Taschentuch hervorziehen, aber sie hielt seine Hand fest. »Glaub mir, ich bin keine Unheilsprophetin. Aber in Pearls Stimme schwang unverkennbare Angst mit. Und Henry starrte mich so dreist und herausfordernd an. Sicher wissen die beiden, wo die Mädchen sind. Du wirst die Westleys doch zwingen, die Wahrheit zu gestehen und meine Nichten finden?«
»Ja, sicher«, versprach er besänftigend. »Könnte Mrs. Bartlesmith die Kinder nicht zu deinen Verwandten gebracht haben?«
»Nein«, erwiderte Taylor unbehaglich, ohne näher auf
dieses Thema einzugehen. »Warum sollten die Westleys vorgeben, sie hätten nie von den Babys gehört? Da sie für meinen Bruder gearbeitet haben, müssen sie seine Kinder kennen. Also verschweigen sie irgendwas. Wenn den Kindern etwas zustößt...«
»Hör auf!« befahl Lucas. »Laß dich nicht von deiner Phantasie mitreißen. Du mußt jetzt ruhig bleiben.«
»Ja, du hast recht«, gab sie zu. Mühsam rang sie nach Fassung. »Ich tue alles, was du willst - wenn du mir nur hilfst.«
»Du bleibst im Wagen, hinter verschlossenen Türen.«
Wenn sie auch nicht widersprach, so beabsichtigte sie doch keineswegs, ihn allein mit den Westleys verhandeln zu lassen. Das waren böse, unberechenbare Leute. Vielleicht braucht er meine Hilfe, überlegte sie. Weil sie ihn nicht belügen wollte, hielt sie den Mund.
Wenig später spähte sie aus dem Fenster und sah, daß sie ihr Ziel fast erreicht hatten. Die Droschke fuhr an schäbigen, halbverfallenen Häusern vorbei.
»Was unternahm deine Großmutter, nachdem sie von Georges Tod erfahren hatte?« fragte Lucas.
»Sie schmiedete ihren Plan, und dann trug sie mir auf, an Mrs. Bartlesmith zu schreiben.«
»Und was war das für ein Plan?«
»Das warst du.«
Verständnislos starrte er sie an, und sie klärte ihn nicht auf. Später, wenn sie die Babys gefunden hatten, würde er alles
begreifen.
»Als ich ein kleines Mädchen war, beschützte mich Marian«, flüsterte sie. »Und jetzt will ich alles tun, um ihre Töchter zu schützen. Ich trage die Verantwortung für meine Nichten.«
»Wovor hat Marian dich beschützt?«
»Vor einem niederträchtigen Schurken.«
»Malcolm?«
»Ja.« Aber jetzt wollte sie nicht über ihren verworfenen Onkel sprechen, sondern sich nur voll und ganz auf die Aufgabe konzentrieren, die sie erfüllen mußte.
»Was soll mit deinen verwaisten Nichten geschehen, Taylor? Werden die amerikanischen Verwandten ihres Vaters sie aufnehmen, oder wirst du sie nach England zurückbringen?«
Vergeblich wartete Lucas auf eine direkte Antwort. »Die kleinen Mädchen brauchen jemanden, der sie wie eine Mutter liebt und behütet und vor allen Schurken dieser Welt bewahrt.«
Nach England! Niemals, hätte sie beinahe geschrien. Die Babys mußten so weit wie möglich von England entfernt werden. Noch immer zögerte sie, Lucas anzuvertrauen, was sie vorhatte. Natürlich wußte sie, welche Gefahren in der Wildnis drohten, und er würde alles tun, um ihren Plan zu durchkreuzen. Aber zwischen Indianern und Bären wären die Kinder immer noch sicherer als in England, unter Malcolms Aufsicht. Die Jahre hatten seine perversen Neigungen wohl kaum abgeschwächt. Er war noch nicht einmal fünfzig, also keineswegs zu alt und gebrechlich, um seinen Gelüsten zu frönen.
Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt, und Taylor blickte wieder aus dem Fenster. Im hellen Mondlicht konnte sie einige Türschilder lesen. Die Häuser oder Hütten standen so nah beisammen, daß sie einander zu berühren schienen. Zu dieser späten Stunde ließ sich keine Menschenseele auf der Straße blicken. Ein eisiger Märzwind fegte Regentropfen vor sich her.
Das Haus der Westleys tauchte im Blickfeld auf. Aus allen Fenstern drang trüber Lampenschein. Taylor sah eine Gestalt im Oberstock umhereilen. »Schau doch,
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