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Prinzentod

Prinzentod

Titel: Prinzentod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beatrix Gurian
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vor Ort gewesen wäre, hätte ihn niemand retten können. Dass er es noch geschafft hatte, mich anzurufen, grenze an ein Wunder, meinte Heike und sie glaubte, dass es nur die Kraft der Liebe gewesen sein konnte. An diesen Gedanken klammerte ich mich, wann immer mich Schuldgefühle überfielen. Ein anderer Lichtblick war Violetta, die mich besuchte. Ich hatte Angst, sie würde mich spüren lassen, welches Unheil ich über ihre Familie gebracht hatte. Doch stattdessen zog sie ein Buch aus der Tasche und begann mir vorzulesen und zum ersten Mal fiel mir auf, was für eine angenehme Stimme sie hat. Auch Tabea kam und erzählte mir bei ihrem ersten Besuch, dass in der Schule die wildesten Gerüchte über das, was passiert war, umhergeisterten. Sie hatte mir sogar ein Geschenk mitgebracht. Ein T-Shirt mit einem Spruch drauf: »Dumm gelaufen«. Darüber habe ich mich zwar gefreut, aber ich glaube nicht, dass ich jemals wieder solche Shirts tragen werde. Tabea war es, die mir langsam wieder das Gefühl für die Wirklichkeit gab, das mir wochenlang abhandengekommen war. Sie kam bald jeden Tag, berichtete mir das Neueste aus der Schule und alberte herum. Nie hätte ich gedacht, dass ich Schule einmal vermissen würde, aber so war es. Und trotz allem – trotz der vielen freundlichen Menschen – wollten meine Wunden einfach nicht heilen. Ich konnte den Fuß nur Sekunden belasten und die Wunde am Oberschenkel eiterte so stark, dass ich Fieber bekam. Schließlich wurde mir klar, dass ich mit Nico reden musste. Ich musste einfach endlich wissen, wie all dieser Hass zustande gekommen war und was an dem Nachmittag mit Kai passiert war. Sonst würde ich niemals gesund werden. Aber bis dahin dauerte es noch fast drei Wochen, denn Dr. Becker wollte den Besuch nicht erlauben, bevor Nico nicht aus seiner wahnhaften Phase wieder zurück und medikamentös gut eingestellt war. Doch dann war es endlich so weit.
    Schon am frühen Morgen bin ich aufgeregt, ich bringe noch nicht einmal mein Frühstück herunter. Dr. Becker und Nicos Arzt haben sich gestern noch einmal unterhalten, aber dann haben beide grünes Licht gegeben. Papa fährt mich im Rollstuhl von der chirurgischen Abteilung, wo ich liege, zur geschlossenen psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses, in der Nico in stationärer Behandlung ist. Wir klingeln am Eingang. Papa hat allergrößte Bedenken, mich gehen zu lassen, aber ich muss unbedingt allein mit Nico sprechen.
    Der Pfleger schiebt mich in Nicos Zimmer, dann verlässt er uns. Nico sieht mager aus in dem blauen Anstaltskittel, der um ihn herumhängt, und lacht ein leises, spöttisches Lachen. Seine dunklen Kirschaugen sind schwarz wie die Nacht ohne Sterne. »Schöne Scheiße!«, sagt er und lässt seinen Blick über meine Beine gleiten. »Ein König sollte nicht so reden!« Er wird knallrot und senkt den Kopf. »Weißt du, es ist unfassbar. Ich hab all meine Blogs gelesen und die Bänder angehört. So klingt der Wahnsinn!« Er gibt sich einen Ruck. »Aber ich habe mich so gut gefühlt, so wunderbar! Ich konnte und wollte nicht schlafen. Ich war endlich jemand, es war großartig. Und dabei habe ich derart Schreckliches getan, das ist fürchterlich.« »Du kannst doch nichts dafür!«, sage ich und denke, dass ich keine Entschuldigung für mein Verhalten habe. »Und das Schlimmste ist, dass ich mich nicht an alles erinnern kann. Vieles ist nur noch verschwommen.« »Nico, es tut mir so leid. Trotzdem muss ich dich etwas fragen, weil es mich völlig fertigmacht. Hast du Kai umgebracht?« Er sieht mich verständnislos an. »Kai?« Ich bleibe stumm. Will ihm nichts in den Mund legen, aber ich hoffe, er erinnert sich. Er schüttelt langsam den Kopf. »Ich wusste doch gar nichts von seiner Wohnung im Westend!« Ich hole tief Luft. Ich habe lange Zeit gehabt nachzudenken, unendlich viel Zeit. »An dem Tag als Kai gestorben ist, habe ich mit ihm Schluss gemacht. Kurz nachdem ich weinend aus der Wohnung gerannt bin, muss er gestürzt sein. Und nur wenig später habe ich am Gollierplatz eine Vespa vorbeifahren sehen, quer über den Fußgängerweg. Warst du das?« Nico starrt mich an. »Am Gollierplatz?«, fragt er verwirrt. »An dem Tag, an dem du Schluss gemacht hast?« »Ja. Einen Tag, bevor er gefunden wurde. Warst du das? Was wolltest du dort?« »Ich weiß nicht«, sagt er hilflos und stöhnt. »Ich weiß es einfach nicht mehr.« »Wir haben uns an dem Tag noch im Treppenhaus getroffen«, versuche ich es weiter. »Du hattest

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