Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
See. Zog sie kräftig durch, während ihr Tränen über die Wangen liefen. Es gab keine Zukunft mehr für sie in Solterra.
Sie ließ den Sonnenkreis in die Westentasche gleiten, als sie das Burggelände verließ. Auf dem Vorplatz staubte es. Die gefiederte Statue, in der Skaia inzwischen einen Urahn von Paparazzo, Papabella und deren Geschwistern erkannte, war mit Getöse in einen Container gestürzt. Der Vogelkäfig auf ihrem Rücken brach als erstes ab. Gleich würde die Figur des Osiris darauf landen. Eine ganze Traube von Männern in Overalls trug schwer an dem steinernen Thron, auf dem der Halbnackte mit seiner Krone aus Sonnenstrahlen hockte. Dahinter warteten Arbeiter mit einem mächtigen Globus. Der Opernautomat. Skaia hatte keine Zeit, seinem Ende beizuwohnen. Sie huschte über den Platz. Kein letzter Blick auf die Burg. Warum auch?
Vor dem Sonnenmast, an dem immer noch Robolde um Strom baten, wollte Skaia abbiegen. Da entdeckte sie in der Schlange einen Kopf mit weißem Häubchen. Es war Lallah in den starken Armen eines Maschinenmannes. Kopf, Arme und Beine hingen links und rechts herunter.
Skaia wagte sich näher heran. Wie sie vermutet hatte, war es niemand anderes als Aldoros Adjutant, der die Gesellschaftszofe aus Skaias Zimmer geholt hatte. Was für ein Glück. Sollte sie noch ein letztes Mal Hoffnung schöpfen? Auch wenn es unvorsichtig war, egal! Ohne Umwege steuerte sie auf den Adjutanten zu. Selbst wenn er dem Komitee Treue geschworen haben sollte, sie musste ihn fragen.
Kaum hatte sie ihn angetippt, sagte er: „Lassen Sie uns ein Stück zur Seite treten, wenn es beliebt.“ Er löste sich aus der Schlange. Eilig rückten die Nächsten nach vorne. Lallahs Kopf pendelte hin und her, als sie sich in eine Seitengasse zurückzogen.
„Sie suchen nach Ihrem Bruder? Nach dem ehemals Wertesten?“
Skaia nickte.
„Er ist nicht in der Burg.“
„Sondern?“
„Ich habe selbst lange gesucht.“
Skaia nickte ungeduldig.
„In der ganzen Stadt. Und das war nicht leicht. Überall machten sich die Leute vom Komitee wichtig, und immer musste ich einen vernünftigen Grund parat haben, warum ich in den Häusern und Kellern, in den Naherholungsanlagen und in den Abwasserkanälen unterwegs war.“
„Und?“ Skaia wollte nichts von seinen Schwierigkeiten wissen.
„Er ist nirgends zu finden. Und ich habe viel gesucht. In den Anstalten, auf den Lagerplätzen, in der Müllverwertungsdeponie ...“
„Ah ...“ Mehr fiel Skaia dazu nicht ein. Ein „Danke“ brachte sie noch zustande, bevor sie sich abwandte und ging.
„Es tut mir Leid“, rief ihr der Adjutant hinterher.
„Danke“, hauchte Skaia noch einmal, aber so leise, dass er es sicher nicht hörte.
Es war aus. Die Suche war zu Ende. Es blieb ihr nur eines: zu verschwinden.
Auf dem siebten Strahl, der in Skaias früheres Wohnviertel führte, kam sie an einem der Züglein vorbei, mit denen die Güterverteilungsanstalt üblicherweise ihre Zuteilungen auslieferte. Hier aber wurden die Anhänger nicht entleert, sondern gefüllt. Aus den Wohnhäusern kamen Männer, deren Komitee-Schildchen hinter all dem Krimskrams, den sie schleppten, beinahe verschwanden. Vieles, was in den Anhängern landete, sah selbst gebastelt aus: eine hölzerne Raupe mit Rädern, eine Riesenblume aus Papier, ein Schwamm, den jemand in Tannenbäumchenform gebracht hatte. Zwischen getrockneten Pflanzen, die zu einem Strauß gebunden waren, schaute golden der Kopf einer Miniatur-Nachbildung des Osiris hervor.
Eine Frau, die einem der Männer hinterher rannte, rief aufgelöst: „Nein, nicht Fiona. Nein, halt, warten Sie“. Die Frau machte einen Satz nach vorne und griff nach etwas, das unter dem Arm des Mannes herausragte: ein wollenes Ärmchen. Beherzt zog sie. Der Mann wandte sich um und sah die Frau, auf die er bisher kein bisschen geachtet hatte, verblüfft an. Mit der einen Hand zog sie weiter, mit der anderen drückte sie nun seinen Ellenbogen nach oben. Seine Hände hatte er nicht frei, um sich zu wehren. Als sie ihm schließlich ein kleines, gestricktes Wesen mit Zöpfen entriss, rutschten noch viel mehr Dinge haltlos hinterher: Muscheln, die jemand bunt bemalt hatte, eine Collage aus unterschiedlichsten Fischbildern und eine Steinplastik, die einen Knaben mit langer Nase darstellte. Zornbebend drehte der Mann sich um die eigene Achse und schrie in alle Richtungen: „Böse wird das enden. Böse!“ Seine Stimme klang düster und wohlbekannt.
Mit
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