Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
senkrecht schoben sich die Eisschollen in die Höhe. Sie zu erklimmen war unmöglich. Die messerscharfen Kanten schienen nur darauf zu warten, denjenigen zu zerschneiden, der den Versuch wagte. Aber Skaia musste ja nicht hinauf. Nicht einmal hinein wollte sie. Denn im Eisberg, das hatten die Echos verraten, herrschte die verbannte Königin. Skaia war nicht ihretwegen gekommen. Sie suchte einzig und allein nach Yaho mit dem Sonnenkreis. Hier würde sie ihn finden. Weil er auf sie, das Mädchen aus dem Orakel, wartete. Sie war durch finstere Nacht gegangen und durch tobenden Sturm. Jetzt stand das Ende der Reise bevor. Nicht allzu lange würde es dauern, dann hätte sie den Berg umrundet und gefunden, was sie retten würde. Und ihren Bruder. Und ganz Solterra.
Mit jedem Schritt, den sie tat, kam sie ihrem Ziel näher. Doch sie musste Abstand halten. Denn sollte sie ausgleiten, durfte sie sich keinesfalls am Berg abstützen. Sie wollte sich ja nicht die Hände aufschlitzen.
Der Weg zog sich. Wie lange ging sie bereits? Weit konnte es eigentlich nicht mehr sein. Sie wurde unruhig. Aufkeimende Angst schnürte ihr den Hals zu. Und das Herz pochte viel schneller. Was, wenn Yaho gar nicht ...
Doch da sah sie in der Ferne Spuren. Konnte nicht erkennen, ob sie groß genug waren für die eines ausgewachsenen Mannes. Begann zu laufen. Vergaß alle Vorsicht, die sie auf dem glatten Untergrund bisher hatte walten lassen. Keuchend kam sie den Spuren näher. Nah ... Sie rutschte aus. Sie fiel. Direkt vor die Spuren. Es waren ihre eigenen!
Es gab niemanden, der auf sie wartete. Nichts als Einbildung war es gewesen. Was hatte sie sich zusammengereimt? Aus Bemerkungen der verlogenen Eingeweihten, aus Andeutungen eines Orakels, das sie nie gefunden hatte, und aus den aufdringlichen Gedanken einer Katze, ohne deren Auftauchen ihr Leben erst gar nicht aus den Fugen geraten wäre. Sollte der Schrei, der in Skaia wuchs, doch nur alles mit sich reißen! Nicht nur den Schnee vor ihrer Nase, sondern auch das Eis, den Berg, den Stern, den Sturm, die Nacht und den Tag. Die Burg, Robolde, Sonnenmasten ― alles stürzte durcheinander. Blech schlug Funken, Steine donnerten auf Maschinen, Kinder trieben durchs Nichts ...
Wahrscheinlich hatte sie gar nicht geschrien. Nur in ihrem Kopf hallte es wie wahnsinnig. Um sie herum sah alles so aus wie zuvor. Keinen Millimeter verrutscht. Auch sie selbst lag genau dort, wo sie hingefallen war.
Es dauerte, bis sie genug Kraft gesammelt hatte, aufzustehen. Die Ärmel ihres Hemdes klebten am Eis. Unglücklich zerrte sie solange an ihnen, bis sie zerrissen. In traurigen Fetzen hingen sie herab.
Die Spur ihrer Schuhabdrücke führte Skaia zurück. Aber was hieß das schon: zurück? Wohin denn? Zur Theatertruppe, nach der sich Mikolo sehnte? Und wie denn? Durch den Eissturm? Ja, vielleicht sollten sie sich einfach hineinstellen. Sie würden fortgeweht und irgendwo ausgespuckt werden. Egal wo, es war überall besser als hier. Oder sie wartete auf die nächsten hellen Sekunden ― wenn es sie an diesem Ort überhaupt gab. Dann müsste sie jedoch den unerschütterlichen Wunsch verspüren, ins Licht zurückzukehren. Dann durfte sie nicht auf die Fragen achten, die sich ihr aufdrängten: „Weißt du denn, wie es um Solterra steht? Willst du so zurückkehren ― mit leeren Händen und ganz ohne Hoffnung?“
Bald stand sie wieder vor der Sturmwand, aus der sie gefallen waren. Sie stieß auf Mikolos Spuren im Schnee. Doch er selbst war verschwunden. Samt Blaukappe. Skaia trat in seine Fußstapfen und lief seine Kreise ab, bis sich irgendwann einer nicht schloss, sondern fortführte. Sie hatte den Weg gefunden, den er eingeschlagen hatte.
Er ging nicht besonders weit und endete an einem bauchigen Etwas, das leicht schräg im Eis hing: eine übermannshohe Holztonne. Sie war verschlossen. In einem der gebogenen Bretter entdeckte Skaia ein Loch. Als sie hineinlinste, war ihr, als sause dahinter ein blaues Licht vorbei. Dann blickte ein Auge hindurch. Fast im gleichen Moment sprang der Deckel auf.
„Skaia! Wo warst du so lange?“ Mikolo streckte seinen Kopf aus der Öffnung.
Das Letzte, zu dem Skaia sich im Stande fühlte, waren Erklärungen. Eigentlich wollte sie nichts anderes, als ihrem Freund in die Arme zu fallen.
Er fing sie auf. Wie warm er war.
„Wie kalt du bist“, erschrak Mikolo. „Komm schnell rein.“
Das Fass roch im Inneren nach Fisch, aber nicht schlimm. Und es gab zwei Decken. Die
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