Prinzessin der Nacht - Phantastischer Roman (German Edition)
Tracheentieren, Unterklasse Myriapoda, Tausendfüßler, wo sie im Unterricht gerade angekommen waren.
„So, dann bis morgen. Schlaf gut!“
„Schlaf auch gut!“, antwortete Skaia und war froh, als ihr großer Bruder die Tür zu ihrem Zimmer schloss, um sich selber zu Bett zu begeben. Tatsächlich musste sie nicht lange warten, bis seine Stiefel im Zimmer nebenan auf den Kunststoffboden polterten. Wie immer hatte er sie nur unter Geächz und Gestöhn von den Füßen streifen können. Zugegeben hätte es Aldoro natürlich nie, dass sie zu eng saßen und dauernd drückten, denn sie hatten ihrem Vater gehört und Aldoro hielt sie hoch in Ehren.
Skaia saß eine Weile auf dem Bett, bevor sie mit dem Zählen begann: „Eins ... zwei ... drei ...“ All ihre Lebensjahre langsam hintereinander aufgesagt ― das würde reichen. Immerhin waren es seit knapp einer Woche schon 13. In den Pausen, die sie einlegte, flog ihr Blick durchs Zimmer: über die Wände zu den Bildern eines Tapirs und eines Grottenolms, die sie selbst gemalt hatte, zu den getrockneten Blättern und Blütenkelchen, die als Mobile unter der Decke schwebten, zum Regal mit einem Schädel des angeblich ausgestorbenen Bonsai-Quaggas, zur Kleidertruhe, in der ihr Pyjama lag, zum Fenster, das die letzten Sonnenstrahlen des vergehenden Tages hereinließ, zur Tür, die manchmal knarzte. Da würde sie aufpassen müssen. Nach der „Sieben“ wusste sie nicht, wohin sie noch schauen sollte, nach der „Acht“ trommelten ihre Finger auf den Knien. „Neun.“ Skaia wollte nicht länger warten: „zehn, elf, zwölf ― und 13!“ Sie lauschte. Kein Geräusch von nebenan. Rasch sprang sie vom Bett, schlüpfte in ihre Jacke und schnürte die Schuhe zu. In der Diele tapste sie vorsichtig am Zimmer des Bruders vorbei. Sanft zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Den Hausflur entlang, der im spärlichen Abendlicht weniger aufgeheizt wirkte als sonst, um die Ecke und ― „SCHSCHSCHZZZSCHSCHSCHZZZ“ ― Skaia zuckte zurück.
Der Hausrobold zischelte wischend und desinfizierend an ihr vorbei Richtung Ebene B. Er stammte aus einer der frühen Baureihen und machte wegen allerlei klappernder Schrauben und quietschender Scharniere eigentlich viel zu viel Lärm, um seine Aufgaben ausgerechnet dann zu erledigen, wenn sich die Bewohner schlafen gelegt hatten. Vor Skaias Augen tanzten Staubkörnchen, die der Maschinenmann aufgewirbelt hatte. Sie glitzerten im Licht, das durch die breite, gläserne Eingangshalle fiel. Draußen stand die Sonne schon tief. Viel Zeit blieb Skaia nicht mehr.
Die Gebäude hatten ihr reines Weiß verloren und schimmerten rötlich. Hart warfen sie ihre Schatten auf die Straße, die zum mächtigen Komplex der Erziehungsanstalt führte. Skaia schlug die entgegengesetzte Richtung ein: zum nächstgelegenen Sonnenmast. Er ragte weit über die Häuser hinaus. Denn auf seine Spitze durfte nie Schatten fallen. Nur so konnte er das Stadtviertel mit der nötigen Energie versorgen. Bei ihrem ersten Aufstieg vor ein paar Jahren hatte Skaia lange vor der Eisenkette gestanden, die quer über die unterste Leiter gespannt war. In ihrer Mitte gab ein Blechschild mit der Aufschrift „Nº 030 ― Ring 12, Bezirk 63, Nord-Ost/Mitte-Links“ die amtliche Bezeichnung des Masts bekannt. Außerdem warnte das Bild eines zuckenden Blitzes vor dem Besteigen. Ehrfürchtig hatte Skaia damals Sprosse um Sprosse erklommen. Das Klettern war mühsam gewesen, denn die Leiter war für ausgewachsene Männer gemacht, aber nicht für Mädchen, die noch die Erziehungsanstalt besuchten.
Doch inzwischen legte Skaia ein geübtes Tempo an den Tag. Vorbei an Plattform 1, auf der das Transformatorenhäuschen brummte, weiter hinauf, begleitet von den grauen Schläuchen, die sich entlang des Masts zur Spitze wanden, um schließlich im Lichttrichter zu verschwinden. Dort war zwar wenig Platz zum Hinsetzen, aber da Skaia die Beine unter dem Geländer hindurch schieben und sie baumeln lassen konnte, fand sie es fast bequem. Hier war sie weit weg vom Alltag. Kein vernünftiger Mensch stieg auf die Sonnenmasten, außer er war als Energator zuständig für das reibungslose Einsaugen und Verdauen der Sonnenstrahlen. Wer brauchte schon diesen Blick über die Stadt? Die Verwalter nicht, denn sie konnten alles Wissenswerte aus ihren Aktenstößen herauslesen. Die Erfindungsbeauftragten nicht, denn sie stierten lieber in ihre Rechenmaschinen. Und all die Erzieher, die es gab, wussten auch so,
Weitere Kostenlose Bücher