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Privatklinik

Privatklinik

Titel: Privatklinik Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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überkam ihn eine fast heilige Feierlichkeit. Das Wunder einer Menschwerdung hatte er früher nie beachtet. Für ihn war es, wie für Millionen Väter, etwas Selbstverständliches, daß eine Frau ein Kind bekam.
    Wie völlig anders war es jetzt. Man lag nebeneinander, er hatte die Hände auf Susannes Leib gelegt und spürte die Bewegungen des Kindes. Eine nie gekannte Zufriedenheit überkam ihn. Aus mir wird ein neuer Mensch, dachte er, ich bin noch nicht zu morsch, um neues Leben zu zeugen.
    Die Nachricht, daß Gundula in die Schweiz könne, empfanden sie deshalb als plötzlichen Schock, auch wenn sie schon immer darauf gewartet hatten. Im stillen hatten sie gehofft, daß nie ein Bett frei würde, daß Gundula sich plötzlich ändern würde, daß ein Wunder geschähe, irgendein Wunder … daß Gundula gehen konnte, daß sie sprechen lernte, daß sie nicht mehr unmotiviert in die Gegend lachte. Irgendein Zeichen der Besserung, das berechtigte zu sagen: Nein, wir lassen Gundi bei uns. Sehen Sie doch, Herr Pfarrer, sie ist ganz anders geworden …
    Aber diese Besserung kam nicht. Gundi wuchs zwar, aber nur körperlich. Sie bekam einen runden Kopf, der in der Proportion nicht mehr zu dem schmächtig bleibenden Körper paßte. Susanne und Peter Kaul sahen es nicht, weil Eltern ihre Kinder anders sehen als Außenstehende, die Nachbarn sagten es ihnen nicht, und auch Merckel schwieg. Aber er drängte auf schnelle Abreise.
    Fünf Tage nach der Nachricht war es dann soweit. Kaul hatte drei Tage Urlaub bekommen, Judo-Fritze hatte zu ihm gesagt: »Fahr am Sonntagmorgen nach Canobbio auf'n Markt. Da war ich auch mal. Da kannste alles kaufen, vor allem Stricksachen.« Pfarrer Merckel hatte zwei Koffer geliehen, die Nachbarn brachten Schokolade und gute Ratschläge, Heinz und Petra weinten, weil sie Gundi nicht hergeben wollten, und wurden für die drei Tage zu einem Arbeitskollegen von Kaul in Pflege gegeben, Susanne packte die Koffer viermal aus und ein, und als die Taxe vor dem Haus hielt, die Nachbarn aus den Fenstern hingen und winken wollten, Pfarrer Merckels Bärengestalt aus dem Auto wuchtete, bekam Susanne einen Schwächeanfall und mußte sich hinlegen.
    »Ich kann nicht, Peter«, sagte sie mühsam. »Ich kann Gundi nicht weggeben. Ich habe solche Angst …«
    Vor dem Haus hupte die Taxe. Züge warten nicht auf eine Familie Kaul. Pfarrer Merckel rannte die Treppe hinauf und schellte Sturm.
    Es wurde ein Aufbruch wie eine Flucht. Als sie endlich im Abteil saßen und der erste Ruck des anfahrenden Zuges sie durchschüttelte, umklammerte Susanne die kleine Gundi und drückte sie an sich. Pfarrer Merckel war dreimal hinausgegangen zur Toilette. Dort nahm er einen tiefen Schluck aus der Flasche, spülte dann den Mund mit Pfefferminzextrakt, den er in einer besonderen kleinen Plastikflasche mit sich führte, und kam beschwingt ins Abteil zurück.
    »Wenn es mir in der Klinik nicht gefällt«, sagte Susanne leise, weil Gundi eingeschlafen war, »wenn es mir nicht gefällt, reise ich sofort wieder ab.«
    »Es wird Ihnen gefallen, Susanne.« Merckel sah aus dem Fenster. Sie fuhren an Zechen und Kokereien vorbei, an Wohnkolonien und Schrebergärten mit verrußten Bäumen und Sträuchern. »Denken Sie nicht an sich … denken Sie an das Kind! Ihm soll geholfen werden.«
    Die Clinica Santa Barbara lag auf einem Hügel, der zur Seeseite steil abfiel, felsig, wild bewachsen mit Buschwerk, Kakteen und Agaven. Es waren einige langgestreckte weiße Gebäude mit Terrassen und Hallen, einer Spielwiese und einem Schwimmbecken.
    Nach ihrer Ankunft in Locarno und der Wagenfahrt zur Klinik hatten die Kauls erst Zeit, sich um die Schönheit der Landschaft zu kümmern. Von Zürich an hatte Susanne geschlafen. Peter Kaul hatte die kleine Gundi übernommen, neben sich auf ein Kissen gelegt und das Köpfchen auf seinen Schoß gebettet. Pfarrer Merckel erklärte ab und zu die Landschaft, aber Kaul sah kaum aus dem Fenster. Er dachte an Dr. Linden, und er dachte an sich. Oft hatte er versucht, sich selbst zu verstehen. Er kam bis zu einer ziemlich eng gespannten Grenze des Verständnisses, dann versagte er.
    Ich muß damals irr gewesen sein, dachte er. Ich habe die Kinder geschlagen, ich habe Susanne gequält, ich habe den Haushalt verkommen lassen, ich lebte wie ein Schwein, ich soff und soff und verkroch mich in den Träumen, die ich dann sah.
    Wie war das alles möglich? Heute war es nicht mehr begreiflich. Es war nicht einmal mehr glaubhaft, wenn

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