Privatklinik
das Etikett auf der Flasche und war versucht zu sagen: »Noch eines, meine Tochter. Ein Einbeiner wäre ein biologisches Wunder.«
Aber er kam nicht dazu.
Von der Unterbauchgegend her durchzuckte ihn ein wahnsinniger stechender Schmerz. Die gefalteten Hände glitten nach unten, drückten auf die Leber, ein röhrendes Stöhnen entwich seinem Mund … er sah Susanne an mit den bettelnden Augen eines Mopses, senkte darauf den Kopf und fiel mit der Stirn auf den Küchentisch. »O Jesus!« sagte er merkwürdig deutlich. »Wenn es sein muß … ich wehre mich nicht mehr …«
Dann seufzte er – es klang wie ein absterbender Blasebalg –, die Hände fielen an den Seiten herab, und er wurde besinnungslos.
15
Peter Kaul lag so, wie ihn Pfarrer Merckel verlassen hatte, auf dem Rücken im Bett und sah an die Zimmerdecke. Er dachte an Gundula. Er dachte an so vieles, was in der letzten Zeit geschehen war. Zum Beispiel an Dr. Linden, den er durch schöne Reden aufrichten wollte und der sich dagegen wehrte, durch Moral geheilt zu werden. An die Männer auf Zimmer siebzig, der Station von Judo-Fritze in der LHA. Aus Protest saßen sie nackt am Tisch.
Peter Kaul wälzte sich auf die Seite und sah auf die Tür, die hinaus zum Flur führte. Dumpf hörte er die Stimme Pfarrer Merckels und die Antwort Susannes. Dann war es plötzlich still, er hörte einen Aufschrei und schob die Beine aus dem Bett auf den Fußboden. Gerade als er aufstehen wollte, wurde die Tür aufgerissen, und Susanne lehnte mit weiten, erschreckten Augen im Rahmen.
»Der Herr Pfarrer …«, keuchte sie. »Peter … er liegt in der Küche … Er … er sagt nichts mehr …«
Es war nicht schwer, zu erkennen, was geschehen war. Kaul beugte sich über Merckel, roch das Kirschwasser, sah die Flasche auf dem Tisch stehen und starrte seine Frau an. Susanne hob wie flehend die Hände.
»Nur für den Kuchen, Peter … ein kleiner Schuß in den Kirschensud … und du ißt ja doch keinen Kuchen, Peter …«
Kaul nahm die Flasche, ging zum Fenster und warf sie aus der Wohnung. Er sah ihr nach, wie sie fiel … sie fiel kerzengerade hinunter, in strammer Haltung gewissermaßen, und unten auf dem Hof zerschellte sie, und das Kirschwasser bespritzte zwei abgestellte Mülleimer.
Dann lief Kaul eine Treppe höher zu Louis Babbetz. Er hatte das einzige Telefon im Haus. Er war Transportunternehmer. Mit einem Kleinlieferwagen zuckelte er durch die Stadt und fuhr alles, was gefahren werden wollte. Von einer Ladung Schweine bis zum Ausflug des Kegelklubs ›Runde Klötze‹ am Himmelfahrtstag, den man allgemein nur noch Vatertag nannte und der ein Freifahrtschein fürs Saufen war. Babbetz' Slogan war bekannt: ›Fährste mir, fährste ihr – Babbetz haste stets bei dir!‹ Es war klar, daß ein solches Unternehmen ein Telefon haben mußte.
Zehn Minuten später hielt der Krankenwagen vor dem Haus. Die Nachbarn bezogen Posten an den Fenstern, die Geschäfte leerten sich, am Rinnstein stand ein Spalier von Frauen mit Einkaufstaschen. Nun war es also wieder soweit! Peter Kaul kam wieder weg! Was man geflüstert hatte, konnte man jetzt laut sagen: Wer einmal 'n Säufer ist, der bleibt auch einer! Die arme Frau Kaul. Und nun kommt das vierte Kind! Frau Meyer, sind Sie nicht auch der Ansicht: Solche Männer sollte man … na, Sie wissen ja. Wenn das vierte nun auch wieder blöd wird? Und mit'n Krankenwagen holen sie den jetzt? Muß ja ganz schön geladen haben! So was säuft sich um Verstand und Gesundheit!
Die Bahre wurde ins Haus getragen. Sogar ein Arzt war dabei, was sonst nicht üblich ist bei einem Krankenwagen. Ein Wispern und Flüstern, vom Rinnstein bis hinter die Theke des Lebensmittelladens.
Ah! Die arme Frau Kaul. Da ist sie! Sieht ganz gefaßt aus. Na, man gewöhnt sich an alles. Nach dem Krieg haben wir sechsmal in der Woche Kohlrüben gegessen. Ging auch! Alles nur Gewohnheitssache.
Da kommt die Bahre! Die Sanitäter schleppen ganz schön. Und der Arzt geht nebenher und hat ein ganz ernstes Gesicht.
Lotte, der ist hinüber, der Kaul! Der himmelt ab! Und wie stur die Susanne neben der Wagentür steht und zusieht, wie ihr Mann hineingeschoben wird. Keine Träne! Keine Regung! Die ist ausgebrannt, völlig fertig, die kann nicht mehr weinen. So ein Lump, dieser Kaul! Aber nun geht er ab, das Saufloch. Man sieht's ja von weitem. Der Arzt weiß es schon! Man sollte mal den Pfarrer fragen, ob der Kaul in den Himmel kommt. Wäre ja interessant zu wissen, wen man da
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