Privatklinik
noch in dieser Zeit. Jahrhunderte sind nicht wegzuwischen … sie lassen sich nur ab und zu maskieren.
Besuch bei Peter Kaul.
Judo-Fritze war sich nicht im klaren, ob er den Besucher vorlassen sollte. Der Mann machte einen netten, freundlichen Eindruck, er hatte für Kaul eine Tüte Obst mitgebracht, aber irgendwie hatte Judo-Fritze das dumpfe Gefühl, dieser Besuch wäre besser zu Hause geblieben.
»Sie sind ein Arbeitskollege von Herrn Kaul?« fragte er noch einmal. Der Besucher nickte eifrig.
»Sein bester sogar.«
»Sie heißen Bollanz?«
»Ja, Hubert Bollanz.«
»Herr Kaul hat nie von Ihnen gesprochen.« Judo-Fritze war sich nicht ganz so sicher, als er das sagte. Irgendwie kam ihm der Name doch bekannt vor. Bollanz! So einen eigentümlichen Klang behält man im Ohr. Andererseits war es Judo-Fritze zu dumm, erst den Abteilungsarzt zu fragen. Als Oberpfleger hatte er bei Besuchen freie Hand, wenn es sich nicht um ganz schwierige Fälle in der ›geschlossenen Abteilung‹ handelte, wo Besuche vom Stationsarzt oder gar vom Chef selbst genehmigt werden mußten.
»Sie werden sehen, er erkennt mich sofort, wenn ich ins Zimmer komme.« Hubert Bollanz legte über sein Gesicht einen Schleier von Mitleid. »Ist er denn ganz klar? Oder ist er …«
»Herr Kaul ist völlig gesund!«
»Aber warum ist er dann hier?«
»Zur Beobachtung! Er ist einer der leichten Fälle, die nur Ruhe und ein anderes Milieu brauchen, um sich zu fangen.« Judo-Fritze räusperte sich. Das war ein guter, eingelernter Satz, den er in seinem Pflegerleben ungezählte Male abgespult hatte. »Na, dann woll'n wir mal!« fuhr er in seiner natürlichen Sprechweise fort. »Aber wenn das nicht stimmt, das mit dem Arbeitskollegen …« Er blieb stehen. Hubert Bollanz sah an dem Riesen empor und nickte. Man muß es wagen, dachte er. Seit Wochen fließt die Quelle nicht mehr. Aber die Raten für das Auto gehen weiter. Ein Auto, dessen Wechsel Peter Kaul bezahlte. Bisher.
Kaul saß in seinem Zimmer und las. Ein historisches Buch. Aus der Heilanstaltsbibliothek. ›Der Löwe von Flandern‹ hieß es. Darin spielte bei den Schlachten und Städteeroberungen die Metzgerinnung eine große Rolle. Überall, wo es brenzlig wurde, marschierten die Fleischer heran und hieben mit ihren Beilen den Sieg heraus. Die alte Form des modernen Stoßtrupps. Ein spannendes Buch. Es bewies, daß zu allen Zeiten und in allen Jahrhunderten das staatlich sanktionierte Menschenschlachten als Heldentat betrachtet wurde.
Die letzten Tage nach der Aussprache mit Frida Milbach waren eine Hölle gewesen. Er war in eine seelische Krise geraten, die Prof. Brosius veranlaßte, ihm dämpfende Mittel zu geben. In der Nacht nach der entscheidenden Begegnung hatte Kaul wieder das unbändige Durstgefühl gepackt. Er hing an den weißlackierten Gitterstäben seines Fensters, biß in das Eisen, leckte die Feuchtigkeit ab und wimmerte in dem Gefühl, daß er innerlich verbrenne, daß er ausdörrte, daß sein Hirn brodelte wie eine überkochende Masse. Als er es nicht mehr aushalten konnte, schellte er nach der Nachtwache. Sie war auf Anordnung des Professors nicht bloß mit einem Pfleger besetzt, sondern auch mit einem Arzt, da es mehr als einmal vorgekommen war, daß sich Tobende schwer verletzten und dann sofort ärztlich versorgt werden mußten. Vor allem in den Schlafsälen kamen solche Dinge häufig vor, und von diesen Schlafsälen war es wieder das Zimmer siebzig im Flügel drei, wo die Wermutbrüder und stumpfen Säufer gesammelt waren.
Nach dem Auftreten der Männer der Anonymen Alkoholiker hatte sich eine Verschiebung bemerkbar gemacht. Der ehemalige Rechtsanwalt Dr. Faßbender und zwei andere Trinker hatten um Verlegung gebeten und besuchten jetzt Kurse und Lehrgänge, Filme und Vorträge, um – wie es heißt – resozialisiert zu werden. Prof. Brosius war von diesem Anfangserfolg fasziniert und hatte auf eigene Faust versucht, den Spruch: ›Ich bin Alkoholiker und heiße Peter S.‹ umzuändern in: ›Ich zeige euch jetzt einige Alkoholiker …‹ und ließ einen Lehrfilm über Trinker abrollen.
Der Erfolg war niederschmetternd.
Erst gingen die Trinker förmlich mit, sie klatschten bei Filmstellen, wo die Betrunkenen in die Gosse fielen, sie gaben Kommentare, wenn jemand in einem Hauseingang schlief, und sie wurden ordinär, wenn Frauen der Heilsarmee oder Caritasschwestern auf der Leinwand erschienen, um die Betrunkenen aufzusammeln. »Keine Lautenmusik!« schrie jemand in
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