Privatklinik
beschleunigt. Ab und zu, in Minuten weinerlicher Selbsterkenntnis, raufte er sich die Haare und sagte: »Ich Kamel! Ich Kamel! Was hätte ich werden können!« Dann trank er wieder, ersäufte das Kamel, wie er sagte, schlief in Bunkern oder bei der Heilsarmee, verdiente seinen Lebensunterhalt als Waggonauslader im Güterbahnhof Köln-Gereon und sparte von seinem Lohn mit eiserner Konsequenz jeweils genau zehn Prozent. Wenn er dreißig Mark zusammen hatte, und das war meistens nach vier Wochen, band er sich einen roten Schlips um, leistete sich für zwei Mark ein Wannenbad in der Badeanstalt, betrank sich vorsichtig und bis zu der Grenze, wo man unternehmungslustig und noch nicht impotent ist, und marschierte in eines der Kölner Altstadt-Bordelle. Dort ließ er für dreißig Mark die Puppen tanzen, wie er es nannte, steigerte seine Lebenslust bis zum Exzeß, bis man ihn auf die Straße warf, wo er – in einer Haustür hockend – bis zur Ernüchterung schlief. Regelmäßig erfolgte dann die Anklage: »Ich Kamel! Ich riesiges Kamel!« Er verkroch sich weinend in den Bunker, schwor, nach Arnsberg zurückzukehren und ein anderes Leben zu beginnen … aber am nächsten Tag entlud er wieder Waggons auf dem Güterbahnhof und betrank sich abends mit den Worten: »Beim Kaiser Karl V. ging nie die Sonne unter! Bei mir auch nicht! Ich schlucke sie, wenn's auf Erden dunkel wird!«
Man sieht, eine abgeschlossene Reife kann man immer gebrauchen.
»Was ist los?« brummte Jim, das Kamel. »Komm ich zu spät? Mußte noch Mehl ausladen! Einen Durst habe ich.«
»Jutta hat gerade Stoff bekommen, Emil ist verhindert, die anderen warten.« René, der Kavalier, zeigte auf Dr. Linden. »Unser Ehrengast ist mir noch zu normal.«
»Pfui!« rief Jim. Er ging zu einem der Fässer Bier, drehte den Hahn auf und hielt ein Glas darunter. Dann schnupperte er an dem Bier, sah René strafend an und schüttelte den Kopf.
»Nicht mal 'n Bock!« Schmatzend stürzte er das Bier in sich hinein – es war wirklich ein Stürzen, er öffnete nur den Mund und schüttete, schüttete, beugte den Kopf nach hinten wie ein Trompeter, der einen hohen Ton zu blasen hat, ja, sogar in den Knien knickte er ein … dann setzte er ab, schüttelte den Kopf und sagte: »Wie Spülwasser! Pfui Deibel!«, griff in die Gesäßtasche und zog eine Flasche heraus.
Die dumpfe Stimmung lockerte sich, als zwei Neue kamen. Sie brachten ein Akkordeon. Mit ihnen kamen fünf Mädchen in den Bunker. Die Mumien an den Wänden wurden lebendig. Sie klapperten mit den Flaschen auf den Zementboden, ihre starren Gesichter wandelten sich, zeigten Freude und Erwartung. Mit zusammengebissenen Lippen betrachtete die Gräfin die Mädchen, die sich um René und Dr. Linden scharten.
»Laßt den in Ruhe, hört ihr!« rief sie mit ihrer rauhen Stimme. »Er gehört zu mir!«
»Gepachtet, was?« Eines der Mädchen legte seinen Arm um Lindens Hals. »Endlich mal ein Mann unter den Leichen! Ich kauf'n dir ab, Gräfin!«
»Hände weg!« schrie Jutta und stemmte sich an der Wand hoch.
Die Mädchen lachten. Ihre hellen Stimmen hallten in den Betongewölben wider, brachen sich, wurden verzerrt, verflüchtigten sich im Echo. Die Hölle, dachte Dr. Linden. Nicht so wie die des Dante Alighieri mit ihren phantastischen Übersteigerungen, sondern nüchterner, realer, logischer … menschlicher. Eine Hölle durch den Menschen, was gibt es Grausameres? Hier sind die Teufelchen kleine Nutten, und die toten Seelen kriechen herum und schleifen die Wermutflaschen mit sich.
Gegen drei Uhr morgens wurde der Cäcilienbunker umstellt, und Polizeibeamte stiegen in die Unterwelt. Schnaps- und Bierdunst schlug ihnen entgegen, Kreischen und Singen füllte die Betongänge, Stimmen überschrien die Musik eines Akkordeons …
Das Erscheinen der Polizei wurde wahrgenommen, aber nicht als Hindernis betrachtet. René, der Kavalier, höflich wie immer, ging als einziger auf die vier Beamten zu und verbeugte sich.
»Ich gebe ein kleines Fest«, erklärte er. »Wenn meine Gäste etwas ausgelassen sind – wir sind ja unter uns, und Pastorentöchter sind nicht anwesend!«
Die Beamten blickten über die Paare, über die tanzenden, kriechenden, liegenden, in Agonie verfallenen Gestalten. Sie sahen, wie eine noch leidlich schöne Frau – die Gräfin – mit einem gut gekleideten Mann tanzte und ihm in kurzen Abständen immer wieder eine Flasche gegen die Lippen preßte.
»Aufhören!« brüllte einer der Beamten. Das
Weitere Kostenlose Bücher