Professor Mittelzwercks Geschöpfe
Zeit gefunden, fernzusehen, so hätte ich es dennoch unterlassen, weil mein Kopf voll war von den auf dem Kongreß geäußerten Gedanken, so von den Theorien Asmussens, der die recht abenteuerliche Hypothese vortrug, daß beide Epen, die Ilias sowie die Odyssee, von einem Dichter stammten. Die Argumente für seine Theorie durchdenkend, war ich gerade im Begriff, vom Vor tragssaal ins Foyer zu gehen, um mit dem Lift das Stockwerk zu erre i chen, in dem mein Zimmer lag, da wurde ich von hinten angefaßt, und zwar derart, daß ich erschrak und unwillkürlich in Abwehrstellung ging. Ich hörte meinen Vornamen Wilhelm rufen und dann den abgekürzten, wie meine einstigen Mitschüler ihn gerufen hatten: Will. Bist du es, Will?
Vor mir erblickte ich einen kleinen, schwärzlich behaarten Mann und überlegte, wer er sein könnte. Ich kam nicht eher drauf, bis er sich vo r stellte: Egon Blend.
Du hast mir früher so oft geholfen, sagte er, daß ich dich jetzt zu einem Drink einladen möchte, er zog mich gleich am Ärmel, mich, der ich in G e danken über die Theorien Professor Asmussens keinerlei Lust verspürte, in einer Bar einen Drink zu nehmen. Zwar ließ er meinen Ärmel los, drängte sich aber so an mich, daß er mit seinem Drängen meine Schritte lenkte und ich, weil ich tief in Gedanken war, mich von ihm in den Lift schieben ließ, der abwärts fuhr, und ohne von Elend gefragt zu werden, in eine dunkle Nische der Bar hinein, die abgeschirmt war vor dem Einblick anderer Gäste, aber wie durch ein Fenster eine Aussicht auf die Bühne bot, wo eine schwarzgekleidete Tänzerin sich langsam auszog.
Was möchtest du trinken, fragte Blend. Ohne meine Antwort abzuwarten, bestellte er Sekt, original französischen Champagner, den es, wie er mich aufklärte, nur in der Bar des Chromaton gab. Die Flasche zu hundertfün f zig, wie er hinzubemerkte.
Allmählich fing ich an, mich auf ihn einzustellen. Er schilderte mir, wie ich ihn einst durch Vorsagen aus mancher schwierigen Situation gerettet, ja, sogar ein Signalsystem entwickelt hätte, das ihm half, Kenntnisse vorz u täuschen. Ich erinnerte mich an ihn als einen Jungen, der immer was im Gange hatte, sich aber nie mit dem beschäftigte, was die Schule lehrte. Womöglich sah er in der Kunst, die Kenntnis des Lehrstoffs vorzutäuschen, das Bildungsziel der Schule. Sie war für ihn eine Schule der Vortäuschu n gen. Ich hatte mich damals oft gefragt, ob es für ihn nicht einfacher wäre, das Schulwissen sich anzueignen anstatt seine ganze Energie auf kompl i zierte Systeme zu verwenden, mit denen er Wissen vortäuschen konnte, auf Spickzettel, auf das Erlernen der Taubstummensprache, auf geheime Zeichen, auf präparierte Bücher, aufs Auskundschaften dessen, was dra n kommen könnte, und auf das Anbringen verborgener Schaulöcher im Sch ü lertisch.
Wenn er nur nicht in seine Schilderungen, wie sehr ich ihm dann und wann geholfen hätte, ich hatte das alles vergessen, den Kommentar zur Leistung der Tänzerin eingeflochten hätte. Sieh mal, die hat einen schönen Rücken, nicht mager, aber auch nicht feist und fett, er ist eher fleischig, hier nehmen sie nicht jede Tänzerin, da muß eine schon was Besonderes haben, wenn sie hier auftreten darf.
Die Ecke, in der wir saßen, war so, wie Egon Ecken auch in der Schule geliebt hatte. Bevor wir in eine neue Klasse kamen, suchte er, wie er es nannte, den toten Winkel, wo man sieht, ohne gesehen zu werden. Mir war diese Nische hier zu dunkel, die Bühne, auf der die Tänzerin sich auszog, ein zu greller Fleck.
Eigentlich merkte ich nach den ersten Sätzen, daß wir uns nichts zu s a gen hatten. So war ich froh, daß er ununterbrochen redete und ich nur zuhören brauchte oder es auch lassen konnte. Doch wurde ich das Gefühl nicht los, im dunkel Verborgenen zu sitzen und etwas mitzumachen, was nicht erlaubt war. Ich glaube, das war wesentlich. Das Sitzen im Verborg e nen.
Kann sein, daß dieses Imverborgenensitzen der erste Eindruck war, der in mir haften blieb und aus dem Unterbewußten hochkam, als die Ereigni s se des letzten Herbstes ihren Lauf nahmen. Blend schien nicht nur sehr froh zu sein, einen alten Mitschüler getroffen zu haben, mir kam es vor, als sei es für ihn notwendig, so einen wie mich zu treffen. Er beteuerte bei der zweiten Flasche, daß er nun endlich jemand habe, mit dem er sich in Ruhe aussprechen könne. Sich aussprechen, so nannte er das Hervorholen ve r staubter Schulerlebnisse! Er fragte mich nicht einmal,
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