Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
Vom Netzwerk:
unterdrückt, gab sich aber alle Mühe, von seiner Erheiterung abzulenken. »Also, was muss ich jetzt tun?«
    Ash setzte sich auf die Liege und betrachtete besorgt die halbierte Tablette. »Du? Hör einfach auf zu lachen. Ich werde das jetzt schlucken. Dann sehen wir weiter.«
    Sie legte die Tablette auf die Zunge, atmete tief aus und schluckte sie hinunter.
    Es schmeckte trocken und ein wenig bitter. Ash entspannte sich, denn es passierte nichts. Trocken, ein wenig bitter und süß. Sommer. Sanfter Sommerregen. Ein großer, grauer Hund liegt vor ihr und lässt sich den Bauch kraulen.
    »Nichts«, sagt sie mit schwerer Zunge. »Es tut sich nichts, Ravi.«
    Der Hund hat gelbe Augen, wie ein Wolf. Er ist ein Wolf. Sie sieht ihre Hand in seinem Fell, und es ist die rundliche, kleine Hand eines Kindes. Ash lacht, blickt auf, um Ravi zu erzählen, was sie tut, und sieht in das Gesicht eines alten Mannes. Er sitzt auf einem Hocker und beobachtet sie.
    »Afi«, ruft sie und breitet die Arme aus. »Opa, ich habe dich so vermisst!« Sie läuft zu ihm und küsst ihn auf seine bärtige Wange. »Du pikst«, beschwert sie sich lachend. Der Wolf springt auf und drückt sich an das Bein des alten Mannes, der sich vorbeugt und ihm den Kopf krault.
    »Vermisst«, hört sie seine tiefe Stimme sagen. »Aus welchem deiner Leben bist du zu mir zurückgekehrt, Hjördis?«
    Sie runzelt die Stirn. Was für eine seltsame Frage.
    Die Welt flackert, wie von einem Stroboskop beleuchtet. Bilder flammen auf und erlöschen. Sie steht auf einem schwankenden Schiffsdeck, klammert sich an ein Tau, schreit nach ihren Töchtern. Ein Brecher schlägt über ihr zusammen, reißt sie mit sich. Schwärze. Sie liegt neben einem schwarzhaarigen Mann und spürt weiche Felle unter sich. Scheite brennen knackend in der Feuerstelle. Wind heult um die Blockhütte, pfeift durch die Ritzen zwischen den Stämmen. Schwärze. Sie wehrt den nächsten Schlag ab und muss an die Mauer zurückweichen. Ihre Freunde liegen tot im Schnee. Ihr Fuß gleitet aus. Ihr Blut sprenkelt das glitzernde Weiß. Schwärze. Der Mann ist auf einen scharfkantigen Felsen gebunden worden. Er windet sich vor Schmerz, seine Stimme ist heiser vom Schreien. Das Schlangenungetüm, das über ihm kauert, lässt seinen Geifer auf ihn herabrinnen. Sein Gesicht ist eine einzige, offene, schwärende Wunde. »Binde ihn los, Afi. Bitte.« Schwärze. Sie sieht sich abschiednehmend im Zimmer um. Wenn er zurückkommt, wird sie wieder einmal fort sein. Dieses Mal hat es ein paar Jahre länger gedauert, aber nun ist sie zu Tode erschöpft. Sie muss gehen, auch wenn es ihr das Herz zerreißt. Schwärze.
    »Du warst bei einer anderen.« Sie greift nach seinem Arm, zwingt ihn, sie anzusehen. Er ist zu jung! »Du hast mich betrogen?« Fassungslos. Er will sie umarmen, aber sie wehrt sich. Er lässt sie nicht los, flüstert in ihr Ohr, sagt ihr, dass er es getan hat, weil ihre Kraft nicht für sie beide reicht, dass er sie nicht schon wieder verlieren will, es nicht ertragen kann, wieder allein zurückzubleiben … Sie spürt Tränen auf ihrer Wange – seine, ihre? Schwärze. Das Motorrad schlingert und legt sich auf die Seite. Der Reifriese steht am Rand der Straße und beobachtet, wie sie stirbt. Seine Augen sind riesig, brennend vor Schreck, Angst und Schuld. Schwärze. Ein leerer, dunkler Saal, tief unter der Erde. Tote, kalte Luft. Eine zerfallende Tafel, Schimmel und Moder und Schmutz. Einsamkeit. Angst …
    Sie atmet flach und hastig. »Großvater. Wie oft schon? Wie oft …?«
    Er hebt sie auf und trägt sie hinauf an den dunklen Quell. Das schwarze Wasser schließt sich um sie, seine Kälte nimmt ihr den Atem. Es schlägt über ihrem Gesicht zusammen. Sie sinkt langsam in die stille Tiefe des Urdbrunnens, ihre Augen weit geöffnet. Sols Licht schimmert gespenstisch durch das schwarze Wasser. Sie hört die Stimmen, die ihren Namen singen. Hjördis Brynhildardottir. Kehre zurück. Kehre zurück. Einmal mehr …
    Ash schreit. All diese Leben. All diese Tode. Angst und Schmerz, Lust und Sonne, Tod und Einsamkeit, Neuanfang und wieder Angst und Schmerz und Tod und das dunkle, stille, kalte Wasser der Quelle … Es soll aufhören. Ich will, dass es aufhört. Odin. Allvater. Afi, bitte. Ich will, dass es aufhört. Nimm die Bilder. Sperr sie ein, tief unten, wo du sie nicht finden kannst. Sperr sie gut ein, die Leben, die Tode. Neubeginn. Keine Erinnerungen mehr. Bitte, keine Erinnerungen mehr …
    Die Hand, die

Weitere Kostenlose Bücher