Projekt Armageddon
schwerfällig. Sie lächelt, und er korrigiert sich: »Ich habe Fehler gemacht. Große Fehler. Den größten, als ich unsere Tochter wegen ihres Ungehorsams zu den Sterblichen verstieß.«
Das Lächeln in ihren Augen erlischt abrupt. Sie lässt seine Hand los und tritt einen Schritt zurück. »Das war dumm, ja«, sagt sie tonlos und wendet sich ab. »Du hast nie wieder mit ihr gesprochen, oder?« Sie drückt einen Zipfel ihres Umschlagtuchs ans Gesicht.
Der alte Mann blickt auf seine fest zusammengeklammerten Hände hinab. »Nein«, sagt er schroffer, als er beabsichtigt. »Nie. Sie war für mich gestorben, das weißt du.«
»Wie ich«, flüstert sie und wischt sich erneut über die Augen. »Ich habe sie nicht wiedersehen dürfen, weil du mich in Schlaf gebannt hast, beinahe so wie sie. Beinahe. Ich lebe …«
Sie wendet sich um, und ihre Augen sind trocken. »Und jetzt bedauerst du es.«
Er reckt störrisch das Kinn. »Ich bedauere es seit der Sekunde, in der ich das schützende Feuer um sie legte. Ich bedauere es seither mit jedem Atemzug. Sie war meine Wunschmaid, mein Liebstes, ich hätte mein Auge für sie …« Er verstummt.
Sie schüttelt tadelnd den Kopf. »Du hättest ein einziges Mal in deinem Leben auf mich hören sollen. Aber ihr Männer seid so stur und unbelehrbar. Was eine Frau euch rät, hat keinen Wert.« Sie lacht, und ihr Lachen löst die Spannung.
Sie sitzen lange schweigend nebeneinander am Feuer, das tanzt und singt, und beobachten die Flammen. Draußen pfeift der Wind und rüttelt an den Fensterläden.
»Ich finde mich nicht mehr zurecht«, sagt der alte Mann endlich. »Das ist nicht mehr meine Welt. Neun Welten beschirmte Yggdrasil. Neun.« Er lacht bitter. »Ich habe sie geschaut, neun Tage und Nächte lang. Danach waren sie ein Stück von mir. Ich kannte jeden Winkel, jeden Berg, jedes Wasser, jeden Baum. Mein Name war in jedem Stein, jeder Wolke, jedem angstvoll schlagenden Herzen. Und jetzt?« Er spuckt aus.
Sie hat einen Korb mit Flickwäsche herangezogen und stopft einen löchrigen Strumpf mit grauer Wolle. »Setz dich zur Ruhe«, schlägt sie vor. »Mach es dir irgendwo nett, wo es warm und sonnig ist und das Leben leicht. Niemand zwingt dich, weiter zu wandern. Du warst immer ruhelos, aber jetzt bist du ohne Heimat.«
Er knurrt wie ein Wolf und zieht einen Beutel mit Tabak aus der Tasche. Seine Pfeife ist so knorrig und dunkel gebrannt wie seine Hand. »Ich bin allein«, sagt er kurz. »Was soll ich tun? Mich in Gladsheims * kalte Halle setzen und mir selbst beim Trinken zusehen?«
Sie nimmt den zweiten Strumpf und steckt das hölzerne Stopfei in seine Ferse. »Sie sind alle fort?«
Er pafft eine graublaue Wolke zur Decke. »Alle«, bestätigt er düster. »Zerstreut in alle Winde. Früher hätte ich sie leicht ausfindig gemacht – neun Welten. Pah. Das ist übersichtlich. Niemand versteckte sich lange vor Allvater. Aber heute?« Er schüttelt den Kopf.
Sie kichert. »Das liegt an der Quantenphysik«, sagt sie.
Er wendet den Kopf, blankes Erstaunen im Blick. »Was sagst du da?«
»Quanten«, wiederholt sie. »Die Midgardkinder haben da etwas erfunden, das die Welten zersplittert. Viele, viele, unendlich viele Welten, alle nur durch einen Quantensprung voneinander entfernt.« Sie lacht wieder und es klingt bewundernd. »Das hätte uns einfallen sollen. Wir wären unbesiegbar gewesen. Aber nun herrschen die jungen Burschen aus den warmen Ländern jenseits des kleinen Meeres und uns hat man aufs kalte Altenteil geschickt.«
Der alte Mann nimmt die Pfeife aus dem Mund und spuckt angewidert aus. »Viel schlimmer«, sagt er knarrend. »Jetzt herrschen die Bürokraten. Der Plan.« Er beugt sich vor und gießt sich roten Wein aus dem Krug ein, den sie ihm schweigend zu Füßen gestellt hat. Er lehnt sich zurück, stemmt die Stiefel gegen den Glutfang und versinkt brütend in seinen Mantel.
Sie lässt ihre Arbeit sinken und mustert ihn. »Worüber machst du dir Sorgen?«
»Ragnarök«, erwidert er lakonisch.
Das Wort steht wie eine Atemwolke in der Luft, eisig kalt und klirrend.
»Ragnarök«, wiederholt sie nach einer Weile. »Ach, Wälse. Das ist doch nur ein bombastischer Mythos. Die letzte Schlacht – es ist doch niemand mehr da, der sie schlagen könnte.«
»Ich bin noch da«, fährt er auf. »Und du weißt, welches Ende du mir prophezeit hast, Urweise. Vom Fenriswolf zerfleischt und verschlungen zu werden!«
Die alte Frau erstickt ein Lachen unter ihrer Hand.
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