Projekt Armageddon
»Lieber«, sagt sie sanft. »Das war doch nur ein Bild.«
Er wendet den Kopf und sieht sie an. Sein Auge ist das eines wilden Falken, einer großen Möwe, eines gehetzten Wolfes. »Nur ein Bild? Ich kenne Fenrir * , Lokis Sohn. Er grinst, wenn er mich sieht!«
Sie lacht immer noch, aber der Ausdruck ihrer Augen ist zärtlich. »Wer sollte denn die letzte Schlacht anzetteln, wenn keiner mehr da ist?«
»Ein alter Feind«, sagt er düster.
»Das müsste aber schon ein sehr alter Feind sein.« Sie legt begütigend eine Hand auf seinen Schenkel. »Du lebst zu sehr in der Vergangenheit. Lieber, wer kennt uns denn noch, wer nennt noch unsere Namen?«
Er senkt das Haupt, verbirgt das Gesicht hinter der Hand. »Vielleicht muss ich mich noch einmal an den Baum hängen, um Wissen zu erlangen«, murmelt er und schaudert.
»Du bist kein junger Wölfling mehr«, sagt sie scharf. »Dieses Mal würdest du es nicht überleben. Sei nicht dumm. Niemand ist dir auf den Fersen. Keiner neidet dir mehr deine Macht. Wovor fürchtest du dich?«
Er hebt das Gesicht aus der bergenden Hand. »Ich leide nicht unter Verfolgungswahn, falls du das damit sagen willst.« Seine Stimme klingt scharf. »Ich weiß, was ich sehe. Jemand hat mir meine Enkelin genommen. Sie ist meiner Hand entrückt, und jetzt ist niemand mehr da, der meine Flanke schützen kann.«
Die alte Frau reißt die Augen auf. »Enkelin«, flüstert sie. »Unsere Enkelin?« Er nickt. »Wälse, das wusste ich nicht. Ich, die ich einstmals alles wusste.« Tränen laufen über ihre Wangen, und dieses Mal wischt sie sie nicht fort.
Er macht eine Bewegung, als wolle er sie in den Arm nehmen, aber sein halb ausgestreckter Arm sinkt wieder herab und er fingert an dem Tonkrug herum, hebt ihn empor, schüttelt ihn, lauscht dem Gluckern. Sein Blick ist verschattet.
Die alte Frau hört auf zu weinen. »Wer hat sie getötet?«, fragt sie erstaunlich gelassen. In ihrem Gesicht, das so verrunzelt ist wie ein Winterapfel, sind entschlossene, harte Kanten und Linien zu sehen, die erkennen lassen, woher ihre Töchter ihren starken Willen, ihre Kraft und ihren Eigensinn hatten.
Er sieht sie mit neu erwachendem Respekt an. »Sie musste stärker sein als wir beide«, sagt er, in Erinnerungen versunken. »Du bist schließlich nicht weniger stur als ich.«
»Und du nur ein bisschen weniger klug als ich«, erwidert sie mit einem Zwinkern. »Nun sag es mir schon. Ich will es wissen, aus deinem Mund. Unsere Enkelin? Wie hieß sie, wo ist sie aufgewachsen? Und wer hat sie getötet?« Hart wie polierter Stein blicken ihre Augen.
Er beugt sich vor, füllt den Becher neben seinem Fuß, trinkt. »Viel erfuhr ich, viel versucht ich, befrug der Wesen viel«, hebt er an zu erzählen. Seine Stimme nimmt den getragenen, melodischen Tonfall des geübten Skalden * und Runensängers an. »Lang und listig sucht ich nach ihr, die Welt durchwandert ich weit, meine Raben stets gaben mir Kunde. Doch alle durchwandert die Welten nun hab ich, neun Reiche bereist ich bis Niflheim nieder …«
»Du hast sie also schließlich gefunden«, unterbricht die alte Frau ungeduldig. »Aber woher wusstest du, dass sie unsere Enkelin ist?«
Er blickt beleidigt ins Feuer. »Niemand hört mir mehr zu«, knurrt er. »Wenn ich früher zu singen begann, lauschte der Saal, die Recken schwiegen, die Asen hingen an meinen Lippen, selbst der Sturm verstummte. Was ist das für eine Welt, in der ich nun weile?«
Die alte Frau schnaubt. »Eine Welt, in der du ein Midgardkind brauchst, um deine Flanke zu schützen«, sagt sie voller Sarkasmus. »Jetzt hör auf, dich zu bemitleiden, Wälse. Sie ist tot, wer hat sie getötet?«
Er grollt, aber sie weicht nicht zurück. »Ich weiß es nicht«, sagt er schließlich. »Frau, wenn ich es wüsste, dann brauchte ich mich nicht mehr zu sorgen. Wer will Ragnarök? Wem kann es nützen? Ich bin so machtlos, wie ich es nie zuvor war. Wer hasst mich so, dass er einen heimatlosen Wanderer zertreten, zermalmen, zernichten will?« Er schreit die letzten Worte, und ein Donnergrollen aus den Wolken antwortet ihm.
Die alte Frau blickt auf das Wollknäuel nieder, das sie in den Fingern hält. »Verwirrte Fäden«, murmelt sie. »Urd, Verdandi, Skuld, meine weisen Töchter. Sie waren sehr geschickt darin, Fäden zu entwirren. Wo mögen sie nun sein?«
»Sie könnten uns nicht helfen.« Er schlägt die Hände ineinander.
»Aber von dem Midgardkind, unserer Enkelin, erwartetest du Hilfe?«
»Ich habe sie
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