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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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weiter festzuhalten und blickte sich hastig um. Dort, etwas höher als die anderen, saß ein blonder, bärtiger Mann, der grübelnd in seinen Becher blickte. Zu seinen Füßen lagen zwei riesige graue Hunde, und während sie ihn beobachtete, ließ sich ein dunkler Vogel auf seiner Schulter nieder. Ein Rabe?
    Der Mann blickte auf und sah sie an. Er trug eine dunkle Binde über dem linken Auge, aber das rechte war hell und kalt wie ein Wintermittag. Sein Blick schnitt ihr durch die Seele und entblößte ihr Inneres. Sie blinzelte. Der Mann war uralt. Sein Haar war weiß, seine Schultern zwar breit, aber gebeugt und sein Gesicht voller Falten. Sie blinzelte wieder. Nein, er war jung und stolz, und das, was sie für Falten gehalten hatte, waren Narben.
    Der Rabe schwang sich von des Mannes Schulter hoch empor in die Luft, verschwand im Qualm und Dämmerschatten unter dem Dach der Halle. Ein anderer Rabe – es musste ein anderer sein, denn er flog vom entfernten Ende der Halle herbei – landete auf des Mannes anderer Schulter und nahm dessen Ohr in seinen großen, gefährlich aussehenden Schnabel. Der Mann hob die Hand und kraulte den Nacken des Vogels, ohne seinen Blick von Ash zu wenden.
    Ash ließ den Speer los und schloss die Augen. »Was sehe ich für Dinge?«, fragte sie laut. »Das ist doch total mittelalterlich. Schwerter und Feuer, Raben und all so ein Zeug.«
    Sie hörte, wie der Gehängte lachte. Mühsam, keuchend, aber deutlich amüsiert. »Du bist ein Spross aus der Wurzel des Weltenbaums«, krächzte er. »Wir sehen Vergangenes und manchmal auch die Zukunft. Wir wissen die Namen der Dinge. Und was wir nicht wissen, wollen wir erfahren, oder das Nicht-Wissen zerreißt uns. Was meinst du, warum ich hier hänge und daran beinahe krepiere?«
    Sie öffnete die Augen und begegnete seinem Blick. Er war so dunkel und kalt wie die Mitternacht. »Sie wollen behaupten, Sie hingen freiwillig hier?«, fragte sie ungläubig.
    »Freiwillig. Was heißt das? Ich bringe mich zum Opfer«, entgegnete er. »Es ist kein Vergnügen, aber es ist notwendig.«
    Ash schüttelte sich. »Sie sind verrückt«, konstatierte sie. »Wahnsinnig vor Schmerzen und kaum noch am Leben. Ich mache Sie jetzt los!«
    Der Gehängte schnaubte. »Versuche es ruhig«, sagte er sarkastisch.
    Ash ignorierte ihn, packte zum dritten Mal den Speer. Er war glühend heiß oder eisigkalt und verbrannte ihr die Handfläche, aber sie ließ nicht los. »Komm schon, du Miststück«, fluchte sie und zerrte daran. Der Speer rührte sich keinen Millimeter weit aus dem gemarterten Fleisch des Gehängten.
    »Gungnir gehorcht dir nicht, Midgardkind«, sagte der Mann. »Er brachte den ersten Krieg in die Welt, er wird auch die letzte Schlacht, den Weltenbrand eröffnen. Er hört nur auf seinen Herrn.«
    »Und wer ist das?« Sie ließ den störrischen Speer los und schüttelte ihre schmerzende Hand.
    »Odin«, sagte der Gehängte wieder, und er lachte.
    Ash pustete auf ihre Handfläche. »Tote Götter zetteln keine Kriege an.«
    Der Gehängte seufzte. »Damit hast du recht.« Er senkte den Kopf und schwieg.
    »Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Ash. Es war doch vollkommen irre, hier höfliche Konversation mit jemandem zu machen, der offensichtlich im Sterben lag. Verflucht, wie sollte sie ihn nur von diesem Baum herunterbekommen?
    »Meiner Namen sind viele«, murmelte der Mann. »Nenne mich Hangatyr, denn der bin ich jetzt und hier.«
    »Okay, Hangatyr.« Ash blickte an der Baumkrone empor. »Ich hole jetzt Verstärkung. Ich bringe ein Messer mit oder eine Axt. Halten Sie nur durch, ja? Versprechen Sie mir das?«
    Der Mann hustete – oder lachte er? »Versprochen«, flüsterte er.
    Ash flatterte noch eine Weile in der Luft, unschlüssig, unsicher, ob sie den Sterbenden jetzt einfach so allein lassen konnte. Aber sie hatte keine Wahl, denn so lange sie den Speer nicht aus der Wunde entfernen konnte, konnte sie Hangatyr nicht befreien. Gonzalo würde ihr helfen müssen. Er war dicht hinter ihr gewesen und wahrscheinlich wartete er immer noch an Azraels Schulter auf sie.
    Azrael? Sie sah nur den gigantischen Baum vor sich, unter sich, über sich. Wo war der Riese mit seinem Buch?
    Ash flog mit einem letzten Blick auf den Gehängten hoch, auf die Sterne zu, die durch die Zweige und Blätter schimmerten. Dünn war die Luft, gefährlich dünn. Ihre Flügel arbeiteten, ihre Lungen pumpten, vor ihren Augen drehten sich feurige Kreise der Erschöpfung und des Luftmangels.

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