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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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davonrennenden Menschen.
    Ash landete wenige Augenblicke später an der Stelle, wo er aufgeschlagen war. Sie rannte, um den Schwung ihres rasenden Sturzflugs abzufangen, noch ein paar Schritte weit mit ausgestellten Schwingen, dann faltete Ash sie ein und kniete neben Gonzalo nieder. Er lag halb im Staub vergraben, die Glieder verrenkt und zerschmettert. Seine Augen starrten blicklos in den Himmel. Ash tastete über seine Brust, berührte die klaffende Wunde, die Azraels Feder ihm zugefügt hatte. Gonzalo musste bereits tot gewesen sein, als sie ihn auffing. Sein Brustkorb war von der Kehle bis zum Bauchnabel aufgerissen worden.
    Ash schloss die Augen und schluckte schwer. Die Schafe drängten sich blökend und jammernd um sie. »Haut ab«, sagte sie heiser. »Weg mit euch. Glotzt was anderes an. Verdammt, verdammt, verdammt!« Sie schrie und schlug mit der Faust auf den Boden.
    Sie spürte, wie die Menschen verängstigt zurückwichen. Nicht wegen ihres Aufschreis, sondern weil knatternde Flügelschläge und ein schrilles Kreischen die Ankunft einer Harpyie ankündigten. Totengräber. Das Beerdigungskommando. Leb wohl, Gonzalo.
    Ash zwang sich dazu, neben der Harpyie stehen zu bleiben, während diese Gonzalos Überreste auseinanderriss und fraß. Ash würgte, aber ihre Tränen waren versiegt. Sie war nicht weniger tot als er. Das hier war nur eine seltsame Existenzform, die bei jedem Gefecht beendet sein konnte. Bei einem der nächsten Gefechte würde sie ins Feld ziehen und kämpfen, und ein Engel oder eins der Flügelpferde würde sie töten. Dann würde einer der kleinen Dämonen oder eine Harpyie sie ebenso vertilgen, wie jetzt gerade Gonzalos Arm als letztes Stück von ihm im Schnabel der Harpyie verschwand.
    Ein tückischer Blick traf sie, die Harpyie krächzte triumphierend und flog auf. Nur die Vertiefung im Boden und ein paar Blutspritzer und Fleischfetzen waren von Gonzalo übrig, von seinem Lachen, seinem Übermut, seinen leidenschaftlichen Berührungen.
    Ash schluckte und stand auf, denn sie war unwillkürlich in die Knie gesunken. Sie straffte ihre Schultern und drehte sich zu den verstörten Menschen um, die sie jetzt allein hinunter ins Lager bringen musste.
    »Los«, rief sie heiser. »Bewegt euch. Dort hinunter. Nun lauft schon, ihr Dummköpfe!«
    Kalani saß neben ihr und hielt ihre Hand. Ash hatte den anderen kurz berichtet, was geschehen war, und sich dann stumm in ihre Decke gewickelt. Das Schlimmste war, dass sie nicht einmal wirklich Trauer empfand. Da war ein dumpfer Schmerz, ein nagendes, bohrendes Zerren, ein paar Tränen waren aus ihren Augen gequollen, aber all das wurde von einem schweren Gefühl der Gleichgültigkeit und Mattigkeit überdeckt. Sie versuchte, sich an Gonzalos Gesicht, seine Stimme, seine Bewegungen zu erinnern, aber all das begann bereits zu verschwimmen, sich aufzulösen. Ash wusste mit plötzlicher, schmerzhafter Klarheit, dass sie sich morgen schon kaum noch an ihn erinnern würde, und noch ein paar Tage später würde sie ihn vergessen haben. Wenn sie in ein paar Tagen selbst noch hier war.
    »Das ist ein schrecklicher Ort«, flüsterte sie.
    Kalani drückte ihre Hand. »Limbus«, entgegnete sie leise. Keiner von uns sollte hier sein. Hier sollte nichts existieren außer Staub und Öde.«
    Ash schloss die Augen. Kalani hatte recht. Dies war kein Ort für Menschen, nicht einmal für Tote.

    Die Ruheperiode ging schleppend und zäh vorüber wie jede der Ruheperioden, die Ash im Lager hinter sich gebracht hatte. Zerschlagen an Leib und Seele stand sie mit dem Weckruf auf und rollte ihre Decke zusammen. Etwas war am Tag zuvor geschehen, das die Erinnerung an einen scharfen Schmerz hinterlassen hatte. Da war jemand gewesen, der gefallen war. Gestorben war?
    Ein Mann, er hatte an diesem riesigen Baum gehangen.
    Ash schüttelte sich. »Kennst du das?«, fragte sie Kalani, die neben ihr um den morgendlichen Trunk brackigen Wassers anstand. »Dass man sich an etwas erinnert, aber nicht weiß, woher die Erinnerung kommt und was sie bedeutet?«
    Kalani, die so müde und hohläugig aussah, wie Ash sich fühlte, nickte nur. »Ich glaube, wir haben jemanden verloren«, fuhr Ash fort. Der Gedanke machte sie wütend. »Es ist nicht recht, dass sie uns unsere Erinnerungen nehmen. Reicht es nicht, dass wir tot sind und dennoch hier existieren müssen?«
    Kalani zuckte mit den Schultern und hielt dem Proviantdämon ihren Becher hin. Er leerte seine Kelle hinein, schöpfte aus dem Fass

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