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Projekt Armageddon

Projekt Armageddon

Titel: Projekt Armageddon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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flüstert er. »Das Ende. Die Weltesche brennt, ihr Stumpf ragt geschwärzt in einen kalten Himmel ohne Sterne. Die Quellen sind versiegt, die Götter geflohen. Niemand ist mehr da, die letzte Schlacht zu schlagen. Es wird keinen Kampf geben, Odin. Blut wird fließen, aber es ist das Blut eines hilflos gebundenen Opfertiers. Die Götter sind nicht mehr.«
    Der Wanderer schlingt seine Arme um sich, als wolle er sich vor den Worten des Riesenhauptes schützen. »Ich bin noch da, ich werde kämpfen«, sagt er heiser.
    Mimir öffnet die Augen und sieht ihn an. Seine Augen, trüb und müde, sind voller Mitleid. »Das Opfertier bist du«, flüstert er.
    Odin springt auf und schlägt ergrimmt mit der Faust gegen das rissige Holz der mächtigen Wurzel. »Das kann ich nicht akzeptieren. Ich werde mich meinem Feind entgegenstellen und ihn bekämpfen, und wenn ich dabei fallen sollte, dann wird es ein ehrenhafter Tod sein, wie er eines Gottes würdig ist.« Mit flammendem Blick wendet er sich an das Riesenhaupt. »Gewähre mir einen Schluck aus deinem Brunnen, weiser Mimir.«
    Der Riese lacht auf. »Wie, willst du mir auch noch dein zweites Auge dafür geben?«
    Der Wanderer ballt die Fäuste. »Ich könnte ihn mir nehmen«, knurrt er. »Wie willst du mich daran hindern?«
    Das Lachen des Riesen erstirbt. Ernst mustert er den Asen. »Du bist der Gott der Verträge«, erinnert er ihn sanft. »Ich weiß, dass du dich nicht immer an dein Wort gebunden gefühlt hast, aber du bist es. Dein Speer steht für dein Wort. Willst du, dass er zerbricht?«
    »Jetzt fang du nicht auch noch damit an«, faucht der Wanderer und hebt die Faust gegen den Riesen. Der zuckt nicht mit den Wimpern, hält des Gottes Blick fest.
    Odin schlägt als erster das Auge nieder, flucht, setzt sich erneut auf den Brunnenrand. Er birgt das Haupt in der Hand. »Ich bin am Ende meiner Weisheit«, sagt er dumpf. »Wenn ich nicht abwarten will, bis man mich schlachtet wie ein Kälbchen, muss ich erfahren, wer mich jagt. Mimir …«
    Der Riese hustet. »Ich weiß es nicht«, sagt er nüchtern. »Mein Blick reicht nicht weit genug. Auch ich bin alt und zittrig geworden, mein Neffe. Wenn ich auch deutlich weniger Glieder besitze als du, die zittern könnten. Verflucht seien die Wanen und ihre Kinder.«
    »Auch sie sind schon lange fort«, murmelt Odin. »Mimir …«
    »Nun trink schon«, sagt der Riese rau. »Du hast mir damals dein Auge gegeben. Mehr kann ich nicht verlangen.«
    Der Wanderer dankt ihm mit einem Nicken. Er schöpft aus dem Brunnen, hebt das dunkle Wasser an seine Lippen, zögert, trinkt, schluckt. Er wankt, hält sich am Brunnenrand fest. Seine Zähne beißen so fest aufeinander, dass die Sehnen an seinem Hals hervortreten wie Stricke. Er zittert wie im Fieber, Krämpfe schütteln seinen Körper. Er beugt sich vornüber, erbricht in einem heftigen Schwall tiefschwarze Flüssigkeit.
    Lange kniet er am Boden, schwer atmend, stöhnend. Der Riese betrachtet ihn reglos.
    »Chaos«, stöhnt der Gott. »Tiefe, schwarze Nacht. Staub und Alter, Moder und Verwesung. Das Nichts ist endlos. Nach Ragnarök wartet keine neue Welt, die grün und voller Hoffnung ist. Nur Dunkelheit und Tod und der ewige Abgrund Ginnungagap * .« Er schluchzt.
    Der Riese senkt die Lider. »Etwas hat die Zukunft verändert«, sagt er. »Etwas oder jemand. Ich kann ihn nicht erkennen – und du ganz offensichtlich auch nicht. Gib dich zufrieden, Odin. Wir Alten werden den Lauf der Welt nicht mehr ändern.«
    Der Wanderer greift nach seinem Speer, stemmt sich damit in die Höhe. Er nimmt seinen Hut, wirft seinen Mantel über die Schulter. Steht gebeugt über dem Mimisbrunnr und erwidert den starren Blick des Auges.
    »Neun Welten«, sagt er leise. »Ich werde sie alle noch ein letztes Mal durchwandern und nach denen suchen, die sich dort vor mir zu verbergen suchen. Freund oder Feind. Den Freund werde ich ermuntern, den Feind zu töten versuchen. Und wenn ich das getan habe, dann bin ich vielleicht bereit für den letzten Gang.« Er senkt den Kopf, schließt das Auge; sieht nicht, dass auch das Auge im Brunnen sich langsam schließt.
    Das Riesenhaupt räuspert sich. »Weißt du, mein Junge«, sagt Mimir im Plauderton, »vielleicht suchst du einfach am falschen Ort.«
    »Wo sollte ich suchen?«, fragt Odin begierig. Aber der Riese schweigt. Er schläft.
    Der Wanderer steht noch eine lange Weile auf seinen Speer gestützt da, betrachtet das schlafende Haupt. Dann schlägt er den Mantel um

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