Projekt Atlantis
hier Urlaub zu machen.
Während Patrick sie kurz darauf auf der Suche nach einem Restaurant durch die Anlage lotste, hatte Peter Schwierigkeiten, die exotischen Eindrücke aufzunehmen. Ein Überborden von Farben und Formen, von Angeboten zum Amüsement und Glücksversprechungen. Fun und Action auf allen Seiten, und Hunderte, Tausende bunt gekleidete Menschen, Lachen, Kreischen, laufende Kinder, Fotoapparate, Videokameras. Sie bewegten sich wie durch einen Ameisenhaufen.
Peter sank ein Stück in seinem Sessel zusammen, als sie sich endlich für eines der zahlreichen Cafés entschieden und je ein Continental Breakfast bestellt hatten.
»Die Welt ist offenbar groß genug«, sagte er schließlich, »um neben Kriegen, Armut, Hungersnöten und Überbevölkerung auch solche Orte zu bieten.«
»Werden Sie jetzt pathetisch?«
Peter sah in eine unbestimmte Ferne. »Nein. Aber wissen Sie, manchmal denke ich... Ach, lassen Sie's gut sein. Es ist nicht wichtig, was ich denke.«
»Nun spucken Sie's schon aus.«
Peter antwortete nicht gleich. »Sehen Sie«, sagte er schließlich, »wenn man sich mit Kulturgeschichte und Archäologie beschäftigt, dann lernt man eines ganz schnell: Das Ausmaß an künstlerischem Ausdruck ist stets ein Indikator für die Fortschrittlichkeit und den Wohlstand einer Kultur. Solange Menschen darum kämpfen müssen, ihre unmittelbaren Grundbedürfnisse zu stillen, wie Nahrung, Unterkunft, materielle und persönlicher Sicherheit, kann sich kaum Kunst entwickeln. Erst mit dem Wohlstand stehen dann Zeit und Muße zur Verfügung, und es sind Phasen des Friedens und der Prosperität, in denen Kunst erschaffen wird. Damit meine ich nicht Kunst im modernen Sinn, also Kunst, die sozialkritisch wäre, verarbeitend, anprangernd, aufrührend, aufklärend. Ich meine Kunst, in der sich der Mensch der Ästhetik und dem Wohlgefallen widmet, also Schmuck, Malerei, Musik, Poetik, Architektur. In diesem Sinn scheint ein Ort wie dieser aus der Ferne betrachtet ein Anzeichen eines besonders hohen Entwicklungsstandes unserer westlichen Kultur zu sein. Und dennoch fühlt er sich... wie soll sich sagen... falsch an. Wie ein hohler Schein. Verstehen Sie, was ich meine?«
Patrick sah den Professor nur an. Der zurückhaltende Engländer war nicht häufig in so tiefsinniger Stimmung. Er gab nur wenig von sich preis, und in seinen Äußerungen beschränkte er sich in der Regel darauf, aus seinem zwar theoretischen, aber scheinbar bodenlosen Wissensschatz zu schöpfen. Er war ein verschlossener Mensch, und trotz der beiden Projekte, die sie schon gemeinsam überstanden hatten, konnte Patrick nur ahnen, welche Gedanken und Interessen hinter den aufmerksam blitzenden Augen des älteren Herren verborgen lagen. Patrick wusste um Peters Sinn für Humor, ebenso wie um dessen Scharfsinn und Bodenständigkeit. Er kannte Peters altertümlich anmutende Scheu vor moderner Technik, Peters Beklemmungen in der Dunkelheit und Peters Mut. Aber was trieb Peter im Inneren an? Wie dachte er über das Leben und die Welt?
»Man sieht sich diese Paläste an«, fuhr Peter fort, »und denkt: Ist das unser Ziel? Dies zu erreichen? Und was haben wir tatsächlich erreicht, wenn der Großteil der Weltbevölkerung dahinsiecht? Ist dies hier dann nicht ein Spott?«
Die Bedienung brachte ihr Frühstück. Patrick nickte nur, sagte aber nichts. Er wollte Peters Gedanken nicht ablenken und freute sich, als der Professor seine Überlegungen fortsetzte, während er sich Tee einschenkte.
»Sie erinnern sich an die Texte, die wir in Südfrankreich gefunden haben. Letztlich deuteten Sie damals schon auf die Legende von Atlantis hin, wie wir jetzt wissen. Es waren Schöpfungsgeschichten aus aller Herren Länder, denen die Eigenheit gemeinsam war, dass es sich um Geschichten einer Sintflut handelte. In jedem dieser Fälle wurde eine erste Kultur durch den Zorn Gottes vernichtet. Und die Begründung war stets, dass sich die Menschen aufgelehnt oder von Gott abgewandt hatten, dass sie aufbegehrten und den Weg von Moral und Ethik verlassen hatten. Auch Atlantis ging unter, weil sich die Kultur vom Spirituellen losgesagt und dem Materiellen und der Selbstgefälligkeit verschrieben hatte. So jedenfalls die Legenden.« Peter nahm einen Schluck von seinem Tee. »Ich will damit nicht ausdrücken, dass ich eine göttliche Strafe erwarte, weil hier ein großes Hotel steht. Was ich nur denke, wenn ich das hier sehe, ist, ob wir aus diesen alten Geschichten nicht etwas
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