Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
sich und fragte: »Iridium? Schläfst du?«
Iridium antwortete nicht.
»Nun, rein technisch gesehen hast du gar keine Möglichkeit, diese Frage mit einem Ja zu beantworten«, fuhr Jet fort und versuchte, ihre plötzlich aufkommende Nervosität mit sinnlosem Geplapper zu bekämpfen. »Also, entweder ja, du schläfst, und du hörst nicht, was ich sage. Oder nein, du bist wach, aber du ignorierst mich.«
»Geh weg«, kam es unter dem Kissen hervor.
Nun, damit war diese Frage bereits geklärt. »Das hier ist auch mein Zimmer.«
»Wie schön. Lass mich in Ruhe.«
»Iri?« Jet hatte Iridium noch nie zuvor in diesem Ton reden hören. Sie war es gewohnt, dass die andere schnoddrig klang, sogar arrogant. Und sie konnte auch kühl klingen, professionell. Ganz abgesehen von den Momenten, in denen ihre Stimme überschäumte vor Wut wie die von Bulldozer, als er sich einen Glassplitter eingetreten hatte.
Aber dies war das erste Mal, dass sich Iri resigniert anhörte. Geschlagen.
»Iri?«, sagte sie noch einmal, höchst alarmiert jetzt. Jet ging zu ihr hinüber, setzte sich auf die Bettkante und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich verspannt an. »Was ist los? Hat es mit deinen Noten zu tun? Mit deinen Eltern? Haben sie Arclight in einen anderen Trakt verlegt?«
»Was kümmert’s dich?«
Autsch. »Iri, natürlich kümmert es mich.«
»Ich bitte dich. Du hast fast ein ganzes Jahr lang kein einziges Wort mit mir geredet, außer wenn es ums Training ging oder um den Unterricht.« Iridium zog sich das Kissen vom Kopf und warf es nach Jet, die sich wegduckte. »Also lass mich gefälligst in Ruhe. Geh einfach. Verschwinde und wirf Schatten oder was weiß ich.«
Jet wollte etwas erwidern. Wollte ihr erklären, dass sie sich ganz aufs Lernen hatte konzentrieren müssen, um nicht zurückzufallen – was Night sehr missbilligt hätte. Aber hier ging es nicht um sie. Hier ging es um Iri. »Callie«, sagte sie, »was ist passiert?«
Iridium schwieg. Sie schlang die Arme um den Hinterkopf und zitterte vor unterdrückter Wut.
»Ich weiß, ich war … sehr beschäftigt«, sagte Jet mit sanfter Stimme. »Aber jetzt bin ich hier. Irgendetwas stimmt nicht. Sag’s mir. Lass mich dir helfen.«
»Immer ganz die Heldin, stimmt s?«
»Nein. Freundin.«
»Du warst in letzter Zeit eine verdammt beschissene Freundin.«
»Ich weiß«, gab Jet zu, und die Wahrheit, die in diesen Worten steckte, schnürte ihr die Luft ab. »Aber lass es mich jetzt sein. Komm schon, Iri. Erzähl’s mir. Das sieht dir gar nicht ähnlich. Bist du krank?«
»Mein Gott, ja. Mir ist speiübel.« Jet wollte gerade nach dem Mülleimer greifen, falls Iri sich übergeben musste, da sprach sie weiter: »Es ist dieser Ort. Er ist verfault. Die Fäulnis dringt in dich ein und wuchert in dir weiter. Und du kannst nichts tun außer daliegen und dich krank fühlen.«
Als Jet Iri so von der Akademie reden hörte, spülte eine Welle des Zorns über sie hinweg. Aber sie schob sie beiseite. »Was ist passiert?«
»Sie haben sie mitgenommen. Beide.«
»Wen, beide?«
»Derek und Chen. Sie sind fort.«
Jet spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich. »Was meinst du mit ›fort‹?«
»Sicherheitsleute haben sie heute aus dem Unterricht geholt und in die Therapie gebracht.«
»Was? Warum?«
»Weil sie schwul sind«, knurrte Iridium. Sie setzte sich auf und schrie es heraus: »Sie lieben sich. Und die verdammte Akademie wird deswegen ihr Gehirn in alle Einzelteile zerlegen!«
Frostbite war schwul? Und Red Lotus auch?
Jet hätte die Vorschrift wortgetreu zitieren können, die gleichgeschlechtliche Beziehungen an der Akademie und in der Schwadron verbot. Corp würde niemals das Risiko eingehen, seine ultrakonservativen Unterstützer vor den Kopf zu stoßen, indem sie bekennende Homosexuelle an die vorderste Front schickten. Das war schlecht fürs Geschäft. Falls Derek und Chen wirklich schwul waren, gingen sie ein verdammt hohes Risiko ein.
Für die Liebe.
Jet wollte Iridium erklären, dass die beiden Jungs etwas getan hätten, das als Verbrechen galt, und dass sie zu Recht dafür bestraft wurden, aber …
… aber das wäre jetzt das mit Abstand Falscheste, was sie sagen konnte. Und außerdem, zur Hölle, ging es hier um Derek und Chen. Jet mochte die beiden. Sie musste an Dawnlighter denken, die immer noch die perfekte künstliche Schülerin war. Und dann sah sie in Gedanken eine offiziell genehmigte Version von Red Lotus vor sich. Von seiner
Weitere Kostenlose Bücher