Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
Schokolade – nicht haselnussbraun, wie Jet einst mit der felsenfesten Gewissheit eines verliebten Schulmädchens geglaubt hatte. Ihre Pupillen schienen das Licht zu absorbieren. Sein Blick war nicht eigentlich böse. Aber in ihm lag etwas, das in den meisten Leuten ein mulmiges Gefühl erzeugte.
Auch in Jet. Aber sie war zu müde – und, um ehrlich zu sein, in der Gegenwart von Bruce auch nicht ganz bei sich –, um sich zu fürchten. Außerdem verkörperte Night so viel für sie – ehemaliger Mentor, ehemaliger Proktor, jetziger Kollege und, manchmal, sogar ein Freund. Aber er war nicht ihr Vater.
»Ich musste mich für die Goldwater-Show zurechtmachen.«
»Ja. Ich habe dich gesehen. Du hast dich von Wurtham ziemlich aus der Fassung bringen lassen.«
Er hatte Glück, dass ich ihm nicht seine Zähne eingeschlagen habe. »Es tut mir leid«, erwiderte sie sittsam. »Ich hätte mich besser unter Kontrolle haben müssen.«
»In der Tat. Und ich hatte eigentlich erwartet, dass du mich eher zurückrufst.«
»Ich bin eben erst nach Hause gekommen.«
Nun, das entsprach immerhin fast der Wahrheit. Sie hatte gerade etwas unglaublich Dummes mit Bruce tun wollen. Aber danach hätte sie sich bei Night gemeldet.
Licht sei Dank! Er hatte genau im richtigen Moment angerufen. War sie wirklich kurz davor gewesen, Bruce einen Kuss zu geben? Einem Mann, den sie überhaupt nicht kannte – einem Mann, der für sie arbeitete? Der bloße Gedanke an Bruce sorgte für allerlei beunruhigende Reaktionen ihres Körpers. Am Rande bekam sie mit, dass Bruce sich inzwischen in der Küche befand. Er stand genau so, dass er auf dem Bildschirm nicht zu sehen war, aber leicht Blickkontakt mit Jet aufnehmen konnte. Unaufdringlich, doch trotzdem jederzeit bereit, ihr zu Hilfe zu eilen. Der perfekte Runner. Mit so sinnlichen Lippen …
»Ich hätte dich nicht noch einmal angerufen, wenn es nicht wichtig wäre«, sagte Night brüsk.
Bei diesen Worten verscheuchte Jet ihre Gedanken an Bruce und richtete ihre volle Konzentration auf den Videobildschirm. »Ich weiß. Ist alles in Ordnung?«
Seine Augen verengten sich, und Jet fühlte sich plötzlich wieder wie das zwölfjährige Mädchen an der Akademie. »Lass mal überlegen. Du hast dich vom Vorsitzenden der Everyman Society vollkommen aus der Fassung bringen lassen. Du bist wutentbrannt mitten in der Sendung aus der populärsten Talkshow gestürmt, die es gibt. Du hast eine Abtrünnige mit Digichips im Wert von 75 000 E-Dollar entkommen lassen. Und das, nachdem du in aller Öffentlichkeit verkündet hattest, dass du einen Schurken in seine Schranken weisen musst.« Seine dunklen Augen funkelten vor Zorn. »Was also denkst du, Jet? Ist alles in Ordnung? Oder hast du vollkommen den Verstand verloren?«
»Ich musste doch wirklich eine Schurkin in die Schranken weisen«, hielt Jet ihm entgegen. Ihre Worte klangen mehr als nur ein bisschen defensiv. Sie hasste es, sich erklären zu müssen. »Sie ist entwischt.«
»Bürgermeister Lee hat wegen der abgebrochenen Zeremonie einen Wutanfall bekommen. Alle Videokameras haben das mitgeschnitten. Er ist so voller selbstgerechtem Zorn, dass die Everyman Society allen Ernstes darüber nachdenkt, ihn für ihre Zwecke einzuspannen.«
Jet rollte mit den Augen. Diese Politikerfreaks waren noch mal ihr Tod. »Ich habe mich ja schließlich nicht heimlich davongestohlen, um tanzen zu gehen«, gab sie zurück. Nicht, dass Lee überhaupt bemerkt hätte, wenn sie still und leise fortgeschlichen wäre. Der Bürgermeister war dermaßen von sich selbst eingenommen, dass es sie überrascht hatte, überhaupt neben ihm auf der Bühne Platz zu finden. Aber die Polizeibeamten hätten sie verpfiffen, und zwar laut.
»Ich weiß. Aber du hast ihn ziemlich dumm aussehen lassen.«
Tief einatmen. Luft anhalten. Ausatmen. Und jetzt sprich weiter, ohne zu schreien. »Ich habe nichts dergleichen getan.«
»Doch, sogar Schlimmeres. Du kannst die gefangene Abtrünnige ja noch nicht einmal vorweisen.«
»Der Papierkram ist bereits erledigt.« Sie warf Bruce einen bedeutungsvollen Blick zu. Der Runner nickte. Übersetzt hieß das: Ja, alle Formulare sind ordnungsgemäß ausgefüllt. Dem Licht sei Dank. Das hätte ihr nach diesem Fiasko gerade noch gefehlt: eine Vorladung wegen Verletzung der Vorschriften.
»Jet. Versteh doch. Du hast den Bürgermeister gedemütigt –«
»Ich habe meine Arbeit gemacht.«
»– und jetzt kannst du noch nicht mal beweisen, dass du wirklich
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