Projekt Ikarus 01 - Schatten und Licht
Society.
Lynda Kidder, »Helden unter uns« New Chicago Tribüne, 5. März 2112
Mitternacht in New Chicago. Jet landete auf dem Fenstersims von Martin Moores Wohnung. Was tun? Sollte sie einfach das Fenster einschlagen und ihn zu Tode erschrecken, oder sollte sie sich in einen Schatten verwandeln und leise vorgehen?
Sie entschied sich für die Schattenmethode. Rein technisch gesehen handelte es sich nicht um einen Einbruch, wenn sie sich auf diese Weise Zutritt verschaffte.
Drinnen hörte sie Moore umherschlurfen. Er war erst vor fünf Minuten nach Hause gekommen. Das konnte schon mal passieren, wenn man die zweite Schicht bei Corp hatte. Jet würde ihm noch ein wenig Zeit geben, um es sich gemütlich zu machen. Vielleicht würde sie sogar warten, bis er im Bett lag. Moore war ein Mann in den späten Sechzigern, und er hatte gerade eine Zehn-Stunden-Schicht hinter sich. Er musste ziemlich erschöpft sein.
Am besten, sie wartete, bis Moore eingeschlafen war … und weckte ihn dann.
Eigentlich hätte sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben müssen. Aber Frostbite war überzeugt, dass Moore Informationen an Kidder weitergegeben hatte.
»Du solltest mal mit einem gewissen Moore sprechen, Martin G. Moore«, hatte Frostbite ihr vor sechs Stunden mitgeteilt. »Er ist das Verbindungsglied zwischen Kidder und Corp.«
Jet war mehr als nur ein bisschen skeptisch. Es bestand eindeutig die Möglichkeit, dass Frostbite sie hier auf eine falsche Fährte setzte oder, noch schlimmer, dass die Sache mit der Verhaftung eines Unschuldigen enden würde. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Er ist der persönliche Technik-Guru des Exekutivkomitees und besitzt Zugang zu allen Dateien, die Corp jemals angelegt hat. Und«, fügte Frostbite genussvoll hinzu, »sein Bankkonto ist ein bisschen zu prall gefüllt für einen einfachen Corp-Mitarbeiter. Sein Auto ist ein bisschen zu schick, seine Wohnungseinrichtung ein bisschen zu teuer. Außerdem hat er ein paar Angewohnheiten, die viel Geld kosten.«
»Lauter unwesentliche Dinge. Das reicht nicht, um ihn zu verhören.«
»Da ist noch etwas. Es heißt, er hat einen Bruder. Einen toten Bruder. Dem Geburtsdatum nach waren es Zwillinge.«
»Irgendwas Verdächtiges?«
»Nein. Es sei denn, Alkoholvergiftung während der Höllenwoche am College ist verdächtig.«
»Dann also nichts«, meinte sie düster.
»Nein? Wie wäre es denn damit: Sein Cousin war ein aktiver Held und wurde im Dienst getötet. Du hast vielleicht von ihm gehört. Green Gaze.«
Sie überlegte. »Sagt mir nichts.«
»Geistmächtiger. Vor deiner Zeit.« Jet konnte das Achselzucken in Frostbites Stimme förmlich hören. »Mein Gott, sogar vor Nights Zeit. Damals, zu Zeiten der Flut. Wenn man den offiziellen Berichten glaubt, hat ihn die Santini-Familie auf dem Gewissen.«
»Und was erzählt man sich sonst so?«
»Es gab Vorwürfe, er sei von den eigenen Leuten erschossen worden. Sie wurden aber schnell vertuscht.«
Jet zischte durch die Zähne. »Nicht gut. Hat die Everyman Society die Sache aufgegriffen?«
»Nö. Komisch, oder?« Obwohl sie über eine sichere Verbindung sprachen, senkte Frostbite die Stimme. »Everyman hat in diesem Fall auf ihr altbewährtes, selbstgerechtes Geschrei in der Öffentlichkeit verzichtet. Und die Familie von GG verschwand praktisch vollkommen von der Bildfläche.«
»Was meinst du mit praktisch vollkommen‹?«
»Sie verhielt sich verdächtig still. Beanspruchte keine Entschädigung. Weder von Corp noch von der Stadt. Machte keine Welle in den Medien. Es war, als wäre sie einfach weg. Vielleicht stimmte das auch.«
»Vielleicht«, sagte Jet, und in ihrem Magen machte sich ein unangenehmes Gefühl breit.
»Aber dann tauchten die Angehörigen mit großem Mediengetöse wieder auf. Völlig orwellisiert. Auf einmal ganz dicke mit Corp. Fast fanatisch. Machten sich zu lauten Fürsprechern von Corp und den Außermenschlichen. Führten sogar einen öffentlichen Protest gegen die Santinis und andere Banden an, allerdings nur kurz. Danach beruhigte sich alles, und sie wurden ganz normale Zivilisten. Lebten anonym. Moore selbst ging zu Corp und machte Karriere in der Technikabteilung. Ist jetzt schon seit fast 40 Jahren da.«
Jet fragte leise: »Glaubst du, Moores Familie war in der Therapie?«
Frostbite erwiderte nichts, aber sein Schweigen verriet alles. Sämtliche nahen Verwandten von Green Gaze, und vielleicht sogar die weiter entfernten, waren … umerzogen worden.
Und
Weitere Kostenlose Bücher